Was haben Hirschhorns Kunst und die singende Nyan-Cat auf Youtube gemeinsam? Beides sind Formen des Remixes. Mix und Remix sind künstlerische Praktiken, die uns vor allem aus der Musik vertraut sind. Sie tauchen aber in verschiedensten Kunstsparten auf und finden in der Volkskunst des Internets, den Memen, ihren besonderen, modernen Ausdruck.
Aus: Pro Helvetia, Passagen, Nr.62/1, 2014 PDF // English version "The New
Folk Art of the Internet" PDF // version francaise "L’art populaire revisité" PDF
Längst bekannt ist die Methode des «Remix» aus der elektronischen Musik der 1990er-Jahre. Dass sie über das Feld der Musik hinaus Verbreitung fand, ist wesentlich dem Umstand zu verdanken, dass heute fast alle kulturellen Werke, ganz oder in ihren reproduzierbaren Aspekten, digital codiert sind. Zwei der wesentlichen Aspekte des Remix sind die Erkennbarkeit der Quellen und der freie Umgang mit diesen. Die Erkennbarkeit der Quellen schafft ein internes System von Verweisen, das die neue Aussage wesentlich prägt. Der freie Umgang mit dem Material hingegen ist Voraussetzung, um etwas hervorbringen zu können, das auf der gleichen Stufe wie das verwendete Material steht. Dem Remix, so schreibt Ulf Poschardt im Kontext der DJ-Kultur, «geht [es] nicht um die Errettung von Authentizität, sondern um die Erschaffung einer neuen Authentizität.»
Dass heute fast alle kulturellen Werke, ganz oder in ihren reproduzierbaren Aspekten, digital codiert sind, hat wesentlich zur Verbreitung des Remix als Meta-Methode über das Feld der Musik hinaus beigetragen. Während die analoge Montage auf das Zusammenführen fremder, in sich stabiler «Fertigteile» abzielte, um daraus wieder etwas Fixes herzustellen, ist das Typische am digitalen Remix das Fluide. Die Teile, die miteinander verwoben werden, werden verändert, angepasst und transformiert. Der Remix betont entsprechend nicht primär den Bruch zwischen den zueinander gesetzten Elementen, sondern deren meist nur temporäre Synthese im Neuen. Dies geht mit digitalen Objekten natürlich um vieles einfacher als mit analogen. Digital heisst aber nicht unbedingt elektronisch, sondern einfach, dass Informationen mittels eines begrenzten Systems diskreter Zeichen, die selbst bedeutungslos sind, codiert werden. In diesem Sinne war die alphabetische Schrift, besonders seit dem Buchdruck, immer schon digital, wie der Literaturwissenschaftler Florian Cramer betont. So ist es einfach möglich, «perfekte Kopien» gedruckter Texte anzufertigen und Teile ohne Verlust aus ihrem Kontext zu lösen und in einen neuen Einzufügen. Zitieren ist eine Form des Remixing. Eine ganze Reihe von Konventionen des Einfügens und Weglassens wurde entwickelt, mit denen direkte Zitate so bearbeiten werden können, so dass sie sich nahtlos in den neuen Text einfügen, aber immer noch als Elemente eines fremden Textes erkennbar bleiben. Eine Kultur des Zitierens, wie wir sie aus den text-orientierten Wissenschaften kennen, breitet sich nun auch auf andere Kontexte aus, allerdings ohne deren streng formale Konventionen der Referenzierung.
Neue Bedeutungen schaffen
Aber der Remix gewinnt nicht nur an Bedeutung, weil heute Kultur digital codiert ist. Er ist auch eine Methode, um in einer Welt mit einer unüberblickbaren Vielzahl kultureller Objekte, deren Bedeutung und Ordnung brüchig oder fragwürdig geworden ist, zu agieren. Gerade online, aber nicht nur dort, ist es alltäglich und normal, dass wir mit Dingen konfrontiert sind, von denen wir nicht genau wissen, woher sie stammen, was sie bedeuten, oder deren Bedeutung nicht zum Kontext passt, in dem wir sie verwenden. Sich mit dieser Welt auseinanderzusetzen, heisst oft, Bestehendes als Bausteine für die Konstruktion neuer, eigener Bedeutung zu verwenden. Herkunft verliert dabei ihre zentrale Stellung in der Bedeutung eines Objekts; diese bestimmt sich mehr aus dem Kontext seiner aktuellen Verwendung. In diesem Sinne ist der Remix auch eine Haltung, die zwar aus dem Arbeiten mit digitalem Material stammt, aber keineswegs auf dieses beschränkt sein muss.
Temporäre Präsenz
Die Verbreitung des Remix als Methode verändert die kulturelle Landschaft in ihrer ganzen Breite, von der Hochkultur bis hin zur Entstehung einer neuen, vitalen Volkskultur. Arbeiten so unterschiedlicher Künstler und Künstlerinnen wie Thomas Hirschhorn oder Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger haben aus der Perspektive des Remix formal mehr gemeinsam als sie trennt. Beide arbeiten mit grossen, offenen Sammlungen heterogener Materialien unterschiedlichster Herkunft, und sie entwickeln daraus eigene Ordnungssysteme, um zumindest temporäre Bedeutungszusammenhänge erstellen zu können. Beide nutzen oftmals starke visuelle Elemente – braunes Klebeband bei Hirschhorn, kristallisierter Harnstein bei Steiner & Lenzlinger – um die diversen Materialien in ein neues Ganzes zu verweben. Es entsteht eine prekäre Balance zwischen der Disparität der einzelnen Teile und der Kohärenz des Zusammenhangs. Beide schaffen also Momente der Präsenz, der Verdichtung und der Konzentration vor dem Hintergrund einer überbordenden Fülle an konkurrierenden, in ihrer Summe chaotischen kulturellen Fragmente, zu denen heute ja auch biologische Prozesse gehören. Inhaltlich könnten die Welten unterschiedlicher nicht sein, aber sie verwenden vergleichbare Verfahren, um aufzunehmen, umzuwandeln und in ein neues Bedeutungs- und Handlungssystem einzufügen. Eine Folge davon ist, dass ihre Arbeiten keinen Anfang haben – die verwendeten Materialien waren schon da, bevor die künstlerische Arbeit sie aufgriff – und auch keine endgültige Form, sondern immer nur temporäre Präsenz. Sie können wieder auseinandergenommen, in ihre alten oder in neue Einzelteile zerlegt und anders zusammengesetzt werden. So tauchen gewisse Elemente immer wieder in Arbeiten auf, verändern ihre Bedeutung, schaffen aber gleichzeitig Kontinuität.
Dieses provisorische, temporäre und damit auch performative Element ist typisch für die Kultur des Remix. Wenn Bedeutung aus der freien Verwebung heterogener, ambivalenter Elemente besteht, dann ist jeder Remix nur einer von vielen möglichen und die verwendeten Materialien, seien sie nun digital, massen-produziert oder nachwachsend, stehen für andere Kombinationen immer noch zur Verfügung. Der Remix überschreibt das Alte nicht, er fügt ihm etwas hinzu. Was Arbeitsweisen wie die von Hirschhorn oder Steiner & Lenzlinger von anderen Remixes unterscheidet, ist ihre für den Kunstkontext typische starke individuelle Handschrift und den Anspruch auf eigene Bedeutungszusammenhänge, die in den Prozessen des Arrangierens und Verwebens generiert werden.
Fliegende Katze mit Tortenkörper
Am anderen Ende der Skala stehen Remix-Phänomene, die keinerlei Handschrift mehr erkennen lassen. Kulturelle Produktionen, die so viele Hände durchlaufen haben, so oft verändert, angepasst und wiederholt wurden, dass sie jegliche Individualität verloren haben, und aufgrund der vielen Bearbeitungen anonym geworden sind. Das bekannteste Beispiel dafür sind die sogenannten «Internet Meme». Das sind kleine kulturelle Versatzstücke, die sich einfach aneignen und replizieren lassen, die einem gewissen Grundmuster folgen, aber endlos variierbar sind und sich so sehr gut verbreiten lassen. Eines der langlebigsten Internet Meme ist die Nyan Cat, eine, wie Wikipedia hilfreich erklärt, «fliegende Katze mit einem Körper, der aus einem Kirsch-Pop-Tart besteht und welche einen Regenbogen hinter sich lässt, wobei im Hintergrund ein Remix des Songs Nyanyanyanyanyanyanya! gespielt wird.» Der Ursprung dieses Mems, der selbst bereits ein Remix ist, ist ein aus acht Bildern bestehendes, auf dreieinhalb Minuten gelooptes Video, das im April 2011 auf Youtube hochgeladen wurde. Seitdem wurde es mehr als 100 000 000 mal angesehen. Was das Mem aber zum Mem macht, ist nicht die Popularität des einzelnen Werkes, sondern sind die unzähligen Versionen, die daraus generiert werden können: von Youtube Remixes zu Computerspielen, T-Shirts, Graffitis, Schlüsselanhängern, Bastelvorlagen, Tafelbildern, inklusive Youtube «how-to video» und und und.
Auf Basis der de facto (wenn auch oftmals nicht de jure) freien Verfügbarkeit von kulturellen Artefakten – digital und analog, elektronisch und materiell – und neuer Technologien, die es erleichtern, grosse Informationsmengen zu verarbeiten und viele gestalterische Schritte zu automatisieren – etwa, wenn Musiksoftware die Rhythmen zweier Stücke automatisch angleicht, damit sie einfacher miteinander verwoben werden können – ist eine reichhaltige kulturelle Landschaft des Remix entstanden, die zwischen der Hochkultur und der Internetkultur der Meme eine Vielzahl von neuen produktiven Kontexten geschaffen hat. Diese erlauben es einer immer grösseren Zahl von Menschen, als kulturelle Produzenten an grössere und kleinere Öffentlichkeiten zu gelangen. Es entsteht eine neue Volkskultur in der, wie in der traditionellen, die Grenzen zwischen Produktion, Reproduktion und Rezeption fliessend sind. Wichtiger als die grossen, solitären Neuerungen sind oftmals die kleinen Veränderungen, die leichten Anpassungen an einen anderen Kontext, die aus dem Chaos quasi bedeutungsloser Artefakte, der Kultur des semiotischen Überflusses, einen neuen Zusammenhang schaffen, der für einen bestimmten Personenkreis und für eine gewisse Zeitdauer, lokale Bedeutung erlangt.
Diese sich entwickelnde kulturelle Landschaft ist eine der vielen Nischen, in denen jeweils nach eigenen Gesichtspunkten und unter Bezugnahme auf spezifische Referenzen, die innerhalb der jeweiligen Nische als relevant angesehen werden, Kultur, das heisst geteilte Bedeutung, produziert wird. Das ist kein Prozess in dem alle gleichberechtigt sind. Es gibt kleine und grosse Nischen, solche mit weniger und solche mit mehr Ressourcen, aber alleine ist keine mehr im Stande, ihrer Referenzpunkte – ihren Kanon – für alle anderen verbindlich zu erklären. Bestens integriert in den zeitgenössischen Kapitalismus, ist der kulturelle Pluralismus der Normalfall geworden. Es ist die Frage, ob sich die kulturelle Landschaft, und damit die Gesellschaft, immer weiter fragmentiert, sodass die einzelnen Gruppen sich immer weniger verständigen können, oder ob unsere Gesellschaft die Herausforderung meistert, Brücken zwischen den verschiedenen Nischen zu schaffen und die Differenzen in einen produktiven Austausch zu bringen.