Ein kurzer Kommentar für die Zeit (48/22), 11/27/2022
Bisher hatten die Europäer den großen (amerikanischen) Anbietern wenig mehr entgegenzusetzen als die nicht besonders erfolgreiche Strategie, sie im Nachhinein zu regulieren. Nun aber wächst schon seit Längerem die Unzufriedenheit der Nutzer. Die Plattformen wurden – auf der Suche nach immer neuen Einnahmequellen – in den letzten Jahren nicht nur mit Werbung überladen, sondern auch so umgebaut, dass die Datensammlung auf Kosten der Benutzerfreundlichkeit geht. Und besonders Twitter-Nutzer sind wegen der aktuellen Turbulenzen in Aufruhr und suchen nach einer Alternative. Das Besondere an der Situation: Eine solche Alternative gibt es tatsächlich. Sie stammt aus Europa und heißt Mastodon.
Mastodon Eating Twitter (Stable Diffusion)
Der Mikroblogging-Dienst, 2016 in Jena initiiert, führte lange ein Nischendasein. Heute hat er knapp sechs Millionen Nutzer, Tendenz stark steigend. Seit Elon Musk Twitter übernahm und immer weiter nach rechtsaußen zu führen scheint, inklusive eines suspekten Referendums zur Wiederzulassung von Donald Trump, wechseln viele zu Mastodon. Auch staatliche Stellen wie das Bundespresseamt, das Bildungs- oder Innenministerium sind inzwischen auf Mastodon vertreten. Und unter dem Namen EU Voice gibt es einen eigenen Mastodon-Server für EU-Behörden.
Wie bei Twitter kann man textlastige Kurznachrichten veröffentlichen, die den jeweiligen Followern in ihrer Timeline angezeigt werden. Allerdings unterscheiden sich die dahinterstehenden Techniken deutlich. Die Applikation Mastodon ist quelloffen, das heißt, sie wird nicht nur transparent und gemeinschaftlich entwickelt, sondern ist auch kostenlos nutzbar. Das ist umso wichtiger, weil Mastodon nicht darauf ausgelegt ist, auf einem zentralen Server zu laufen, sondern dezentral, also auf vielen autonomen, miteinander kooperierenden Servern. Das Prinzip kennen wir von E-Mails oder vom World Wide Web. Und weil die Server verteilt sind, sind auch die Kosten verteilt, und entsprechend ist der Kommerzialisierungsdruck kleiner.
Anders als Twitter und Facebook ist Mastodon deshalb ganz bewusst nicht auf kommerzielle Optimierung ausgelegt. Es ist komplett werbefrei, es gibt keinen zentralen Algorithmus, der einem ungefragt "viralen Content" in die Timeline drückt, damit man länger auf der Seite verweilt und noch etwas mehr Werbung erduldet. Bei Mastodon bekommt man einfach chronologisch angezeigt, was man explizit ausgewählt hat, wenn man bestimmten Accounts aktiv folgt. Das bringt Ruhe in den Nachrichtenstrom.
Andere Probleme gibt es allerdings auch bei diesem Nachrichtendienst: So stößt etwa das Prinzip der freiwilligen Mitarbeit an seine Grenzen, besonders im Bereich der Infrastruktur. Da könnte mit relativ wenig Fördermitteln – aus öffentlicher oder privater Hand – viel bewirkt werden. Auch die Regulierung rassistischer und sexistischer Posts wird durch eine nicht kommerzielle Struktur nicht einfacher und droht die freiwilligen Moderatoren zu überlasten. Aber während die großen Plattformen solche Probleme oft durch künstliche Intelligenz zu lösen versuchen, könnte es bei Mastodon durch soziale Intelligenz gelingen. Die dezentrale Struktur macht es vor allem möglich, mit unterschiedlichen Lösungen gleichzeitig zu experimentieren und die für den jeweiligen Kontext richtigen zu finden. Darin liegt eine große Chance, die wir unbedingt nutzen sollten.