Der Jahrtausendwechsel erschien vielen Zeitgenossen, auch mir, als großes Nicht-Ereignis. Nicht nur das angekündigte Chaos der Computersysteme wegen des berüchtigten Millenium Bugs blieb weitgehend aus. Auch sonst war der 1.1. 2000 kaum vom 31.12. 1999 zu unterscheiden. Rückblickend kann man jedoch feststellen, dass um das Jahr 2000 tatsächlich ein epochaler Wechsel stattgefunden hat. Nicht von einem Tag auf den anderen, aber in relativ kurzer Zeit in einer Serie von Kippmomenten. Bereits lange andauerende Bewegunbgen haben eine kritische Masse überschritten und sind zur einer neuen kulturelle Umgebung verschmolzen. Am deutlichsten lässt sich dieses Kippen an der rasanten Ausbreitung des Internets nachverfolgen. Das Internet wurde in seinen Grundzügen in den 1970er Jahren entwickelt. Jedoch noch drei Jahre vor der Jahrtausendwende war es, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, ein fast marginales Phänomen. Nur etwa sechs Prozent aller Deutschen nutzen das Internet zumindest gelegentlich. Drei Jahre danach waren es bereits mehr als 53 Prozent. Seitdem ist der Anteil weiter gewachsen. Für die unter 40-Jährigen lag er 2014 bei über 97 Prozent. Parallel dazu stiegen die Datenübertragungsraten deutlich, mit Breitbandanschlüssen fiel das Einwählen per Modem weg, das Internet war nun »hier« und nicht mehr »dort«. Mit der Ausbreitung mobiler Endgeräte ab 2007, dem Jahr der Einführung des ersten iPhone, wurde digitale Kommunikation flächendeckend und kontinuierlich verfügbar. Das Internet ist seither überall. Die Nutzungsdauer hat zugenommen, und seit die sozialen Massenmedien wie Facebook ihren Siegeszug angetreten haben, sind die Menschen in fast allen Lebenslagen und Situationen online. Inzwischen ist das Internet für viele eine Infrastruktur, die sie wie Wasser- oder Stromnetze als gegeben voraussetzen.

Das Internet ist aber nicht die Ursache dieses Wandels, sondern nimmt eher die Rolle eines Katalysators ein, der viele bereits laufende, vormals unabhängige Entwicklungen – etwa die seit den 1960er Jahren zunehmende Wichtigkeit kommunikativer Dimensionen in der Arbeit, die seit den 1970er Jahren erkämpfte gesellschaftliche Akzeptanz nicht-heterosexueller Identitäten und Lebensweisen oder die bereits erwähnte Entwicklung der Medientechnologien – zusammenführte. Sie konnten sich wechselseitig verschränken, was sie verstärkte und dazu führte, dass sie sich jenseits der ursprünglichen Kontexte, in denen sie entstanden waren, ausbreiten konnten. So rückten sie vom Rand ins Zentrum der Kultur, wurden dominant und verschärften die Krise der bisherigen kulturellen Formen und Institutionen, während gleichzeitig neue Formen und Institutionen entstanden und an Einfluss gewannen. In Summe bilden diese nun eine neue, alle Lebensbereiche – und entsprechend auch Wirtschaftsbereiche – prägende Umgebung, das heißt, ein neues Set von Möglichkeiten und Erwartungen.

Unübersichtliche Zeiten

Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ist der zentrale Aspekt dieser neuen Umgebung ihre grundsätzliche Unübersichtlichkeit. Die bisherige Ordnung wurde hergestellt durch Medien, die die Filterung vor den Akt der Veröffentlichung setzen und so eine gewisse Übersichtlichkeit produzierten (zum Preis des selektiven Ausschlusses). In dieser Ordnungen konnten viele rezipieren, aber nur wenige publizieren. In der neuen (Un)Ordnung kann und muss jeder selbst publizieren. Facebook, als das offensichtlichste Beispiel, ist darauf aufgebaut, dass jeder seiner 1.6 Milliarden Nutzen, Informationen hat, die er gerne anderen mitteilen, also publizieren, möchte. Auf Facebook und anderswo geschieht das weitgehend ohne zentrale Filterung. Diese setzt erst danach ein, in der konstanten Bewertung dessen, was bereits publiziert wurde, als wichtig, richtig oder eben nicht. Im Notfall werden die Dinge wieder gelöscht, so gut das geht. Diese neue Struktur von Öffentlichkeit ist in vielen Aspekten eine logische Entwicklung, die der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in immer mehr Milieus und Nischen Rechnung trägt. Immer weniger Menschen wollen sich sagen lassen, dass ihre Anliegen irrelevant seien. Das Spektrum der Meinung und Orientierungen, die heute an die Öffentlichkeit gelangen, ist um ein vieles größer, als es auch die beste Zeitungsredaktion hätte abbilden können. Selbstverständlich ist nicht jede dieser Meinung konstruktiv oder begrüßenswert. Aber schon alleine die Idee, dass man wegen »fake news« oder anderer problematischer Entwicklungen ein Redaktionssystem einführen müsse, die entscheiden, was online publiziert werden darf, erscheint so absurd, dass es deutlich ist, dass es kein zurück mehr gibt.

Aus der grundsätzlichen Unübersichtlichkeit ergibt sich aber die für jeden – ob er oder sie das nun dafür bereit ist oder nicht – die Notwendigkeit, sich selbst zurecht zu finden. Die Aufgabe der Filterung und damit der Orientierung vor dem Hintergrund der chaotischen Informationssphäre prägt die Kultur der Digitalität also Ganzes. Es entstanden drei Formen des Ordnens, die trotz der verwirrenden Vielfalt an Bestrebungen, Konflikten und Widersprüchen dieser kulturellen Umwelt ihre spezifische, einheitlichen Charakter verleihen.

Referentialität

Referentialität, also das Erstellen eines eigenen Gefüges von Bezügen, ist zur allgegenwärtigen und allgemein zugänglichen Methode geworden, um all die vielen Dinge, die jedem Einzelnen begegnen, zu ordnen. Sie werden so in einen konkreten Bedeutungszusammenhang gebracht, der auch das eigene Verhältnis zur Welt und die subjektive Position in ihr (mit-)bestimmt. Zunächst geschieht dies einfach dadurch, dass Aufmerksamkeit auf gewisse Dinge gelenkt wird, von denen dadurch – zumindest implizit – behauptet wird, sie seien wichtig. Mit jedem einzelnen hochgeladenen Bild auf Flickr, jeder Twitter-Nachricht, jedem Blogpost, jedem Forumseintrag, jedem Statusupdate macht ein User genau das; er teilt anderen mit: »Schaut her, das finde ich wichtig!« Filtern und Bedeutungszuweisung sind an sich nichts Neues. Neu ist, dass beide nicht mehr primär durch Spezialisten in Redaktionen, Museen oder Archiven ausgeführt werden, sondern zur Alltagsanforderung für große Teile der Bevölkerung geworden sind, unabhängig davon, ob diese über die materiellen und kulturellen Ressourcen verfügen, die nötig sind, um diese Aufgabe zu bewältigen. Angesichts der Flut von Informationen, die uns heute tagtäglich umgibt, ist die Fokussierung von Aufmerksamkeit, die Reduktion unüberblickbarer Möglichkeiten auf etwas Konkretes, eine produktive Leistung, so banal jede dieser Mikrohandlungen im Einzelnen auch sein mag, und auch wenn es sich zunächst nur um die Fokussierung der eigenen Aufmerksamkeit handelt. Der Wert dieser oftmals sehr kleinen Handlungen liegt darin, dass sie Elemente aus dem gleichförmigen Strudel der Unübersichtlichkeit herausgreifen. Das so Hervorgehobene erfährt eine Aufwertung durch den Einsatz einer Ressource, die sich nicht vervielfältigen lässt, die außerhalb der Welt der Informationen steht und die für jeden Einzelnen unabänderlich beschränkt ist: die eigene Lebenszeit. Jedes Statusupdate, das nicht durch eine Maschine erstellt wurde, bedeutet, dass jemand seine Zeit investiert hat,und sei es nur eine Sekunde, um auf dieses – und nicht etwas anderes – hinzuweisen. So geschieht eine Validierung des im Übermaß Vorhandenen durch die Verbindung mit dem ultimativ Knappen, der eigenen Lebenszeit, dem eigenen Körper. Mag der dadurch generierte Wert noch so klein oder diffus sein, er ist, in Anlehnung an Gregory Batesons berühmte Definition von »Information«, der Unterschied, der den Unterschied im Strom der Gleichwertigkeit und Bedeutungslosigkeit macht. Als alltägliche Handlungen, die schon fast beiläufig geschehen, schaffen sie allerdings meist nur sehr schwache, kurzlebige Unterschiede. Doch sie finden nicht bloß einmal statt, sondern immer wieder. Sie addieren sich stellen Verbindungen her zwischen den vielen Dingen, auf die Aufmerksamkeit gelenkt wird. So werden Wege durch die Übersichtlichkeit gelegt. Diese Wege, die beispielsweise dadurch entstehen, dass auf Verschiedenes nacheinander hingewiesen wird, dienen ebenfalls dazu, Bedeutung zu produzieren und zu filtern. Dinge, die potenziell in vielen Zusammenhängen stehen können, werden in einen einzigen, konkreten Zusammenhang gebracht. Auf diese Weise etablieren sich, zunächst einmal für den einzelnen Produzenten, Aufmerksamkeitsfelder, Referenzsysteme, Sinnzusammenhänge.

Gemeinschaftlichkeit

Sich als Einzelner in einer komplexen Umwelt zu orientieren ist unmöglich. Orientierung wie auch Handlungsfähigkeit können nur im Austausch mit anderen entstehen, innerhalb eines größeren Rahmens, für dessen Existenz und Entwicklung gemeinschaftliche Formationen von zentraler Bedeutung sind. Sie entstehen in einem wie auf immer gearteten Praxisfeld, geprägt durch informellen, aber struktutrierten Austausch, sind fokussiert auf die Generierung neuer Wissens- und Handlungsmöglichkeiten und werden zusammengehalten durch die reflexive Interpretation der eigenen Praxis. Speziell der letzte Punkt – das gemeinschaftliche Erstellen, Bewahren und Verändern des interpretativen Rahmens, in dem Handlungen, Prozesse und Objekte eine feste Bedeutung und Verbindlichkeit erlangen – macht die zentrale Rolle der gemeinschaftlichen Formationen aus. Diese, nicht singuläre Personen, sind die eigentlichen Subjekte, die Kultur, also geteilte Bedeutung, hervorbringen.

Auf der alltäglichen Ebene der kommunikativen Selbstkonstitution und der Schaffung eines persönlichen kognitiven Horizonts – in unzähligen Streams, Updates und Timelines in den sozialen Massenmedien – ist die wichtigste Ressource die Aufmerksamkeit der anderen, deren Feedback und die daraus resultierende gegenseitige Anerkennung. Und sei diese Anerkennung nur in Form eines schnell dahin geklickten Likes, der kleinsten Einheit, die dem Sender versichert, dass es irgendwo einen Empfänger gibt.
Die Konstitution von Singularität und die von Gemeinschaftlichkeit, in der ein Mensch als Person wahrnehmbar werden kann, erleben die Nutzer als gleich zeitige und reziproke Prozesse. Millionenfach und schon beinahe unbewusst (weil alltäglich) üben sie ein Verhältnis von Einzelnem zu anderen ein, das so gar nicht mehr dem liberalen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen persönlicher und Gruppenidentität entspricht. Anstatt sich als einander ausschließende Entitäten zu sehen (entweder emphatische Affirmation des Individuums oder seine Auflösung in der homogenen Gruppe), setzen die neuen Formationen voraus, dass die Produktion von Differenz (Ansage: das hier ist neu!) und Gemeinsamkeit (Anwort: das gefällt uns!) gleichzeitig geschieht.

Die Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Formation ist freiwillig, aber sie ist nicht uneigennützig. Im Gegenteil: Eine wichtige Motivation besteht darin, Zugang zu dem durch eine Formation konstituierten Praxisfeld und den damit verbundenen Ressourcen zu gewinnen. Eine gemeinschaftliche Formation macht schließlich mehr, als nur die Aufmerksamkeit der einzelnen Mitglieder aufeinander zu lenken. Über die gemeinsame kulturelle Produktion strukturiert sie auch, wie die Mitglieder die Welt wahrnehmen und wie sie sich selbst und ihre Handlungsmöglichkeiten darin entwerfen können. Sie ist also ein kooperativer Filter-, Interpretations- und Konstitutionsmechanismus.

Algorithmizität
Algorithmizität bezeichnet jene Aspekte der kulturellen Prozesse, die durch von Maschinen ausgeführte Handlungen (vor-)geordnet sind. Algorithmen transformieren die unüberschaubaren Daten und Informationsmengen, die heute viele Bereiche des Alltags prägen, in Dimensionen und Formate, welche durch die menschliche Wahrnehmung überhaupt erfasst werden können. Es ist unmöglich – für jemanden alleine wie auch für eine noch so große Gemeinschaft – Milliarden Websites sinnerfassend zu lesen. Deshalb sind wir auf Angebote wie den Google-Suchalgorithmus angewiesen, die uns die Datenflut (Big Data) auf eine Menge reduzieren und in jene Formate übersetzen, die Menschen verstehen können (Small Data). Damit machen sie menschliches Verstehen und Handeln in der auf digitale Technologien aufbauenden Kultur überhaupt erst möglich und beeinflussen es in ambivalenter Weise. Sie schaffen gleichzeitig neue Abhängigkeiten, indem sie die (informationelle) Welt vorsortieren und zugänglich machen, und sie sorgen für Autonomie, indem sie die Voraussetzungen der persönlichen Handlungsfähigkeit generieren.

Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität sind Grundformen der Digitalität. Sie bilden ein neues Set an Möglichkeiten und Erwartungen, die jeder einzelne sich selbst und die Welt konstituieren und begreifen kann. Ihre Allgegenwärtigkeit stellt etablierte Institutionen in Kultur, Politik und Wirtschaft vor enorme Herausforderungen. Sie müssen ihre internen Strukturen und Abläufe so anpassen, dass diese Möglichkeiten realisieren für ihre jeweiligen Anliegen und Projekte, realisieren können, sonst riskieren sie, die Erwartungen der Menschen soweit zu verfehlen, dass sie von diesen als nicht mehr relevant angesehen werden. Nicht nur politische Parteien und Zeitungsredaktionen erfahren dies gerade auf schmerzliche Weise.

Aus: Agora 42 (Ausgabe 02/17: Digtialisierung. S.24-28)