London. Kurz vor Olympia. Die U-Bahn-Haltestellen sind zu den wohl meist-überwachten öffentlichen Räumen der Welt geworden. Hier setzt sich ein Mitglied der Zürcher !Mediengruppe Bitnik auf den Boden, im Blickfeld einer Überwachungskamera. Sie öffnet einen gelben Koffer und betätigt einen Schalter. Das Bild der Überwachungskamera fällt aus, auf dem Bildschirm im Kontrollraum erscheint ein Schachbrett und aus den Boxen ertönt eine Stimme: «Ich kontrolliere jetzt ihre Überwachungskamera. Ich bin die mit dem gelben Koffer.» Das Bild springt zurück auf die Frau in der U-Bahn-Station. Und wieder schaltet das Bild um auf das Schachbrett: «Wir wäre es mit einer Partie?», fragt die Stimme. «Du bist Weiß. Ich bin Schwarz. Ruf mich an oder schreib eine SMS, um deinen Zug mitzuteilen. Das ist meine Nummer: 07582460851.»

Diese Intervention, in der die unverschlüsselte Funkverbindung zwischen Kamera und Kontrollzentrum manipuliert wird, eröffnet eine komplexe Spielanlage. Da ist zunächst das Angebot des Schachspiels, auf das aber bisher noch niemand im Kontrollzentrum eingestiegen ist. Das ist nicht verwunderlich, denn diejenigen, die hinter den Monitoren sitzen, sind zumeist schlecht ausgebildete, prekär Beschäftigte, die selbst einem strikten Kontrollregime unterworfen sind. Für sie wäre ein Eintreten auf das Angebot des Schachspiels mit einem hohen Risiko verbunden. Das Angebot des Schachspiels ist aber selbst Teil einer erweiterten Spielanlage zwischen Bitnik und dem Kontrollzentrum. Bitnik machte den ersten Zug, nun ist die andere Seite an der Reihe. Das Vorkommnis ist aber soweit außerhalb der im Instruktionshandbuch vorhandenen Szenarien und die Verlässlichkeit des Videobilds ist soweit in Frage gestellt, dass sich oftmals eine Tür öffnet, und die Person hinter der Kamera hervortritt und selbst nachschauen kommt, was denn eigentlich los ist. Und damit ist wieder Bitnik am Zug. Das Spiel ist in vollem Gang.

Mit der Eröffnung eines Spieles gelingt !Bitnik eine tief greifende Umwertung des Raumes, der durch die Überwachung geschaffen und geprägt wird. Denn die Logik des Spiel ist in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil der Logik der Überwachung. Im Spiel stehen sich gleichberechtigte Spieler gegenüber. Für alle gelten die gleichen Regeln, alle haben die gleichen Chancen. Die Überwachung hingegen basiert auf einer konstitutiven Ungleichheit. Die einen sehen, die anderen werden gesehen. Das Spiel bringt die Akteure in einen gemeinsamen Handlungsrahmen, die Überwachung trennt die Akteure von einander. Das Spiel ist Ergebnis-offen und lässt Überraschungen zu, während die Überwachung darauf abzielt, Situationen zu kontrollieren und Unerwünschtes zu verunmöglichen. Das Spiel ist Kommunikation, Überwachung ist Anti-Kommunikation.

In dem Moment, in dem sich die Türe öffnet und jemand vor die Kamera trifft, ist die Überwachungssituation aufgehoben und die Spielsituation etabliert. Ein neuer Raum ist entstanden, in dem die Formatierung durch die Macht aufgehoben und die Unwägbarkeiten des Spiels bestimmend sind. Dieser neue Raum ist kurzlebig, er verflüchtigt sich, sobald der Kontrolleur die Situation verstanden hat und wieder in einen Kontrollraum zurückkehrt. Aber vielleicht nicht ganz. Momente des Kontrollverlusts klingen lange nach. Irgendwo lagert sich immer etwas ab. In den Erinnerungen der Beteiligten, in Artefakten, die produziert wurden, in Beschreibungen und Erzählungen. Wohin diese Sedimente gespült werden, wo sie wieder auftauchen, sich möglicherweise zu neuen Momenten verdichten, können wir nicht vorhersagen. Grail Marcus hat sie in seinem gleichnamigen Buch mit «lipstick traces» verglichen. Verblichen und leicht zu übersehen, für diejenigen, die sie zu lesen wissen, äußerst evokativ.

Felix Stalder

Die Arbeit «Surveillance Chess» ist zu sehen in Zürich, Helmhaus (28. Juli bis 9. September 2012) und in Paris, Galerie La Gaîté Lyrique (27. Oktober bis 30. Dezember 2012)

Erschienen in: Springerin 4/12