Mein Beitrag zum eben erschienen Band: "Nach dem Ende der Politik - Texte zur Zukunft der Kulturpolitik III"

Seit etwa 40 Jahren findet ein umfassender Individualisierungs- und Entsolidarisierungsschub in den westlichen Gesellschaften statt. Neuerdings gibt es aber auch zaghafte Gegenbewegungen, die nicht primär darauf ausgerichtet sind, die Errungenschaften des industriellen Wohlfahrtsstaats zu verteidigen (was notwendig bleibt) oder abstrakte Kritiken zu entwickeln. Vielmehr entwickeln sie durch eine veränderte Alltagspraxis ganz neue Dimensionen gesellschaftlicher Solidarität auf Basis geteilter, für alle zugänglicher Ressourcen, die zunehmend politisch als Gemeinschaftsgüter oder Commons artikuliert werden. Im Folgenden sollen diese Dynamiken auf dem Gebiet der Kultur skizziert werden.

Individualisierung versus Entsolidarisierung

Zunächst ist es aber wichtig, Individualisierung und Entsolidarisierung, die von der neoliberalen Ideologie so erfolgreich verknüpft wurden, analytisch von einander zu unterscheiden. Die Individualisierung der Gesellschaft lässt sich als eine direkte Folge der strukturellen Veränderungen der Kommunikationsmedien, der Wirtschaft und der Kultur erklären, die es ermöglichen, eine ungleich größere Vielfalt und Flexibilität zu organisieren.

Klassische Massenmedien verlieren an Dominanz zugunsten von massenhafter, horizontaler Selbstkommunikation. Anstatt nur Empfänger_in einer für alle gleichen Nachrichten zu sein, kommunizieren immer mehr Menschen selbst medial und schaffen dabei hochgradig ausdifferenzierte Öffentlichkeiten unterschiedlichster Dimensionen und Strukturen. Neue Technologien erlauben es, viel größere Informationsmengen zu verarbeiten, ohne dass unlösbare Koordinationsprobleme entstehen. Die bisher geltende Unvereinbarkeit von flexibler Netzwerkstruktur und Organisationsgröße gilt nicht mehr. Als Folge steigt die Komplexität, die bewältigt werden kann (und muss), stark an. Auf dem Gebiet der Ökonomie wird die fordistische Großproduktion identischer Waren abgelöst von flexiblen, vernetzten Produktionsstrukturen, in denen nicht mehr eine Firma das ganze Produkt entwickelt und massenhaft herstellt, sondern Firmennetzwerke ad-hoc verschaltet werden, um mit größtmöglicher Flexibilität Produkte für schnell wechselnde Märkte und eine Vielzahl von Nischen zu produzieren. Auf dem Gebiet der Kultur kann ein Aufblühen von Subkulturen, die sich stärker ausbreiten und dabei voneinander differenzieren, festgestellt werden. Es gibt mehr Nischen, und diese Nischen sind besser vernetzt. Als Folge werden die alten Fassungen (etwa Volksparteien, Gewerkschaften, Kirche, Massenmedien) und normativen Grundlagen (etwa die patriarchale Familie, bürgerlicher Wertekanon, protestantische/sozialistische Arbeitsethik) der industriellen Massengesellschaften immer mehr ausgehöhlt, und an ihre Stelle tritt eine Vielzahl von sozialen Modellen und Wertorientierungen, die eine immer größere Zahl von lokalen und vernetzten Nischen prägen. Die sozialen und kulturellen Lebenswelten werden vielfältiger, und die gemeinsamen Berührungspunkte scheinen abzunehmen.

Die Entsolidarisierung hingegen ist nicht strukturell bedingt, sondern eine Folge bewusst gesetzter politischer Entscheide, die sich teilweise der Sprache der Individualisierung bedienen, aber primär darauf abzielen, die in der Nachkriegszeit aufgebauten Kollektivorganisationen der Gesellschaft systematisch zu schwächen und die Profitrate des Kapitals zu erhöhen. Unter den Slogans wie "Mehr Privat, weniger Staat", "Mehr Netto vom Brutto" oder "Bürokratieabbau" wird die Entsolidarisierung vorangetrieben und weite Bereiche der Gesellschaft (etwa in Bildungs- und Gesundheitsbereich) explizit oder schleichend privatisiert, das heißt von einem öffentlichen Auftrag befreit und einer profit-orientierten Marktlogik unterworfen. Aus Bürger_innen werden Kund_innen. Anstelle demokratischer Gleichheit tritt Differenzierung über die Kaufkraft. Parallel dazu werden die sozialen Ausgleichsmechanismen auf ein Minimum zurück gefahren. In Österreich etwa wurde zwar 2010 die "bedarfsorientierte Mindestsicherung" eingeführt, aber so knapp bemessen, dass sie teilweise bis 20% unter der Armutsschwelle liegt. Entsolidarisierung ist ein vielschichtiges Phänomen, bei dem eine individuelle Ebene (Steuerflucht, Schwarzarbeit, etc), eine kollektive (Privatisierungen, Abbau des Sozialstaats, Anstieg von Leiharbeit etc) und eine normative (De-legitimierung von Kollektivlösungen und Popularisierung der Einstellung, dass jeder am besten für sich selbst sorgen kann) unterschieden werden kann. Sie stellen aber alle eine spezifische, politische Reaktion auf strukturelle Veränderungen dar, die auch anders sein könnten und etwa in Skandinavien auch anders sind. Dennoch, trotz Wirtschaftskrise ist diese politische Entwicklung in Europa und global keineswegs gebrochen, sondern setzt sich nach wie vor uneingeschränkt fort. Auch schwere systemische Erschütterungen scheinen bisher nicht zu einer Infragestellung neoliberaler Leitideen geführt zu haben, sondern deren Durchsetzung wird eher nochmals verschärft, nachdem sie für die Banken kurzzeitig ausgesetzt wurden. Um deren Rettungspakete zu finanzieren, müssen nun die öffentlichen Haushalte vor allem im Bereich der Sozialsysteme saniert werden.

Privatisierung der Kultur

Diese großen, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungslinien durchziehen auch das Feld der Kultur, hier verstanden im umfassenden, ethnologischen Sinne als Prozesse und Artefakte der symbolischen Sinnerzeugung. Kultur in diesem Sinne umfasst Hoch- wie auch die Alltagskultur, Kunst ebenso wie Wissenschaft, expressive wie auch funktionale Artefakte. Auch hier haben in den letzten Jahren die öffentlichen, solidarischen Leistungen ab- und die Privatisierungstendenzen nochmals stark zugenommen. Dies verlief zu einem über den Ausbau der Urheberrechte und zum anderen durch deren stärkere Durchsetzung unter dem Druck verschärfter ökonomischer Rahmenbedingungen. Ein kurzer Abriss muss hier genügen, um dies zu verdeutlichen. 1996 verabschiedete die World Intellectual Property Organisation (WIPO) das "Copyright Treaty", welches alle unterzeichnenden Länder verpflichtete, ihre nationalen Urheberrechte zu verschärfen (in dem etwa die Umgehung von Kopierschutztechnologien unter Strafe gestellt wird) und zumindest teilweise zu harmonisieren. Dies war aber nur der Auftakt zu einer ganzen Welle von Gesetzesänderungen. Kaum war die Umsetzung der WIPO-Bestimmungen in nationale Gesetze abgeschlossen, legte 2004 die EU-Kommission mit der "Directive on the enforcement of intellectual property rights" (IPRED) nach, die, wie der Titel andeutet, die Möglichkeiten der effektiven Umsetzung deutlich erweitert, indem etwa explizit nicht-kommerzielle Aktivitäten strafrechtlich verfolgbar wurden (§ 2). 2009 verlängerte das Europäische Parlament die Dauer des Urheberrechts für die aufführenden Künstler_innen von 50 auf 70 Jahre, obwohl durch eine eigens dafür eingesetzte Expert_innenkommission nachgewiesen wurde, dass der gesamtgesellschaftliche Schaden größer sei als der Nutzen, und dass nur sehr wenige, bereits sehr gut verdienende Künstler_innen davon profitieren werden. Dennoch wurde eine bisher öffentliche Ressource, Musikaufnahmen, die gemeinfrei geworden wären, privatisiert, unter dem Druck einer kleinen Gruppe, die davon profitiert: die Musik-Verleger_innen. Gleichzeitig sind in einigen europäischen Ländern, angeführt von Frankreich und Großbritannien, Gesetze eingeführt worden, damit Personen, die wiederholt gegen Urheberrechte verstoßen haben (etwas durch ihre Teilnahme an Filesharing-Netzwerken) der Internet-Zugang entzogen werden kann. Aktuell wird auf der europäischen Ebene an einer erneuten Verschärfung der "enforcement rights" (IPRED2) gearbeitet. Dieser Vorstoß zielt darauf ab, dass Urheberechtsverletzungenen nicht nur zivilrechtlich (also eine Privatklage), sondern auch strafrechtlich (also auf Initiative der Staatsanwaltschaft) geahndet werden können. Parallel dazu wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein neues internationales "Anti-Counterfeiting Trade Agreement" (ACTA) verhandelt, das auch die weitere Stärkung der Rechteinhaber_innen vorsieht. Eine neue Gesetzesvorlage zu Netzsperren wird auf europäischer Ebene ebenfalls vorbereitet.

Diese Gesetzesänderung, und die damit in Beziehung stehenden Geschäftsmodelle, führen zu einer weitgehenden Privatisierung aller kulturellen Artefakte und zur aggressiven Durchsetzung der nun sehr umfassenden, exklusiven Nutzungsrechte, welche sich die Rechteinhaber_innen sichern konnten. Es gibt heute kaum mehr ein kulturelles Artefakt, das in den letzten 50 bis 100 Jahren entstanden und nicht in privatem Besitz mit durchsetzungsstarken Rechten ist. Dadurch lässt sich ein Monopol nach eigenem Gutdünken verwalten, was heute zunehmend aggressiver geschieht. Die Position der Rechteinhaber_innen ist so sehr gestärkt worden, dass – wenn diese nicht mehr auffindbar sind – die Werke de facto unbenutzbar werden, sie verwaisen. Laut einer aktuellen Studie der EU Kommission betrifft das in Europa rund 3 Millionen Buchtitel, der älteste davon wurde 1859 publiziert. Viele kulturelle Prozesse, die bisher in der Praxis nur wenig mit dem Urheberrecht in Berührung kamen, weil sie künstlerisch, wissenschaftlich oder nicht-professionell orientiert waren, werden heute geprägt von urheberrechtlich basierten Privatisierungsprozessen. Diese Tendenz wird nochmals verstärkt, da viele Kultur- und Bildungsinstitutionen, die traditionell dem Ideal des öffentlichen Zugangs verpflichtet waren, in den letzten Jahren gezwungen wurden, sich neue, marktorientierte Einkommensquellen zu suchen. Dabei haben sie das kommerzielle Potential ihrer Tätigkeiten, Sammlungen und Archive entdeckt, die sie als immaterielle Güter auf den Markt zu bringen suchen, sei es, dass Erfindungen, die an öffentlichen Universitäten entstehen, patentiert werden, oder dass die Nutzung von Archiven eingeschränkt und gebührenpflichtig wird.

Gegenläufige Tendenzen

Diese Praktiken der Einschließung, der zunehmenden Privatisierung der Prozesse und Artefakte der symbolischen Sinnerzeugung, stehen in direktem Konflikt mit zwei gegenläufigen Tendenzen, die auf Grundlage der Digitalisierung und Vernetzung entstanden sind. Zum einen erweitert sich der Kreis der Kulturproduzent_innen. Das heißt, die Anzahl der Personen, die an der kollektiven Sinnerzeugung teilnehmen, wächst ständig an. Die Technologien und Kulturtechniken der Medienproduktion sind weit verbreitet. Jeder Standard-Computer kann auch als digitales Bild- und Tonstudio dienen, und dank billiger Digitalkameras und Mobiltelefone ist auch fast jede_r in der Lage, selbst Bilder und Videos zu produzieren. Das Internet, das auch ein globales, umfassendes Archiv darstellt, lässt mühelos auf Inhalte anderer zugreifen. Da diese Inhalte digital sind, lassen sie sich beliebig bearbeiten und in eigene Werke einbauen. Über Web 2.0-Plattformen wie YouTube.com und viele andere können heute eigene Kreationen einer engeren oder breiteren Öffentlichkeit angeboten werden. Diese Möglichkeiten der öffentlichen, nicht-professionellen Kulturproduktion werden heute von hunderten Millionen Menschen genutzt. Daraus entstehen neue, hochdifferenzierte Nischen der individualisierten Populärkultur.

Zum anderen haben sich die Methoden der Kulturproduktion stark verändert. Transformative Ansätze, die bestehendes Material bearbeiten und in einen neuen Kontext einbetten, haben sich stark verbreitet, sowohl im Amateur- als auch im professionellen Bereich. Viele Felder sind so komplex geworden, dass Fortschritt nur inkrementell ist und immer stark auf Bestehendem aufbaut, das verändert und erweitert wird. In den modernen Wissenschaften war dies traditionell schon immer der Fall, muss aber aufgrund der fortschreitenden Privatisierungen wieder neu betont werden. In anderen Gebieten, etwa der Softwareentwicklung, wird dies immer deutlicher. Es haben sich aber auch neue Ästhetiken entwickelt, die vielfältige Blickpunkte, Perspektiven oder kulturelle Kontexte miteinander in Beziehung setzen, um damit zeitgenössische Erfahrungen zu artikulieren. Das ist nicht neu, sondern war eines der Kernthemen fast aller künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, seit die Kubisten 1907 die fixe, Individuum-orientierte Zentralperspektive zugunsten multipler, sich instabil überlagernder Perspektiven aufgaben. Mit der Digitalisierung und Vernetzung sind diese Verfahren nun ins Zentrum der allgemeinen, professionellen wie nicht-professionellen, Kulturproduktion gerückt. Was einst Avantgarde war, ist heute Alltag. Nicht nur haben sich die technologischen Voraussetzungen im Zuge der Digitalisierung gewandelt, sondern auch die aktuellen Lebenswelten, die in hohem Maße von medialen Artefakten geprägt sind. Sie bilden sozusagen unsere Natur.

Damit verändert sich aber die Verfasstheit der Kultur selbst. Stark vereinfacht lässt sich sagen, dass Sinnerzeugung in vielen Bereichen wieder dialogischer und partizipativer wird, was heißt, dass Hören und Sprechen, Lesen und Schreiben, Rezipieren und Produzieren wieder näher zusammenrücken. Medienwissenschaftler_innen sprechen schon seit langem in diesem Zusammenhang von einer "zweiten Mündlichkeit", was bedeutet, dass Kulturpraktiken, die traditionell mit nicht-schriftlichen Kulturen verbunden waren, nun wieder, auf der Basis digitaler Schriftlichkeit, an Bedeutung gewinnen. Während häufig die digitale Eigenschaft des verlustfreien Kopierens im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht, so ist mindestens so bezeichnend, dass digitale Artefakte meist einfach verändert werden und damit auf die Interessen und Möglichkeiten der jeweiligen Sprecher_innen angepasst werden können. Reproduzieren und Produzieren rücken sehr nahe zusammen. In diesem Sinne bestehen Ähnlichkeiten zu mündlichen Traditionen. Von vielen populären Filmen gibt es heute nicht nur einen "director's cut", sondern auch diverse "fan cuts", in dem Fans die Filme nach ihrem eigenen Geschmack neu editieren, was für einige eine Verbesserung, für andere ein Respektlosigkeit gegenüber dem verehrten künstlerischen Werk darstellt. Ähnlich wie mündliche Geschichten existieren auch digitale Medienprodukte in einer Vielzahl von Versionen, die jeweils den sich ändernden Kontext ihrer Rezeption reflektieren.

Individualisierung und Solidarität

Diese beiden gegenläufigen Entwicklungen – Ausbau der Urheberrechte und deren verschärfte Durchsetzung auf der einen und neue, dialogische und partizipative Formen der Kulturproduktion auf der anderen Seite – können nur mit großen Schwierigkeiten koexistieren. Sie beruhen auf grundsätzlich anderen Modellen, wie Kultur entsteht, wer sie macht, wie das Verhältnis zwischen Autor_in (Rechteinhaber_in) und Öffentlichkeit ausgestaltet zu sein, und welche ökonomischen Modelle erfolgreich sein können. Dieser interne Widerspruch zwischen zwei Organisationslogiken bricht nicht an der Peripherie sondern in den avanciertesten Sektoren der Informationsgesellschaft auf, der Kultur und Wissensproduktion, dort wo die neuen Technologien zu besonders intensivem Einsatz kommen und die Wertschöpfung besonders hoch sein kann, weil neue Produktions- und Rezeptionsformen entstehen. Im Sinne von Marx könnte man hier einen Widerspruch von Produktivkraft und Eigentumsform vermuten, der bezeichnend ist für Epochenbrüche.

Unter dem Druck dieses Widerspruchs und der Konflikte, die dadurch entstehen, ist in den letzten Jahren eine Bewegung entstanden, die beginnt, neue Formen der gesellschaftlichen Solidarität zu formulieren. Zentrales Stichwort dieser Bewegung ist der Digital Commons, oder die Wissensallmende. Grundlage dieser Bewegung ist die Annahme, dass alle in einer Gesellschaft zumindest potentiell an der Kulturproduktion teilhaben, das Kreativität nicht eine herausragende Fähigkeit einiger weniger ist, sondern, in verschiedenen Formen und Intensitäten, breit in der Gesellschaft verteilt ist. Eine weitere Annahme ist, dass kulturelle Produktion nicht in der Isolation stattfindet (wie das romantische Bild des Schriftstellers, der mit dem weißen Blatt ringt, suggeriert), sondern etwas, das in der Gesellschaft, im regen Austausch mit anderen stattfindet. In diesem Austausch lassen sich dann auch die Grenzen zwischen der eigenen Kreativität und dem Beitrag Anderer in einen Produktionsprozess oftmals nur noch schwer ziehen.

Als Konsequenz der neuen, zentralen Rolle der Commons und der drauf beruhenden populären wie auch professionellen Kulturformen wird das Verhältnis zwischen Einzelnen und der Gemeinschaft neu bestimmt. Dabei geht es nicht in Richtung Kollektivierung. Der alte (industrielle) Gegensatz zwischen Individuum und Kollektiv spielt in der Netzwerkgesellschaft keine Rolle mehr. Vielmehr geht es um Formen der Individualisierung im Kontext kultureller Gemeinschaften. Der Gegensatz verläuft zwischen Atomisierung und Vernetzung. Im Falle der Vernetzung vollzieht sich die Individualisierung jedoch explizit in der Einbettung in einen lebendigen kulturellen Kontext, der nicht nur Material (Werke anderer) bereitstellt, das in die eigene Arbeit einfließen kann, sondern auch den Rezeptionshorizont für die eigenen medialen Prozesse und Artefakte liefert. Wobei das "Eigene" als eine spezifische Form der Vermischung von Neuem und Bestehendem, von Individuellem und Übernommenem zu verstehen ist. Aus der Konzeption, dass ein kulturelles Artefakt nicht in Isolation entsteht, sondern im Austausch, dann leitet sich daraus ab, dass dieser Austausch nicht willkürlich angebrochen werden darf (durch die Vergabe umfassender exklusiver Eigentumsrechte), sondern dass ein Artefakt auch nach seiner Fertigstellung Teil des gemeinschaftlichen Kontextes bleibt und für andere zur Bearbeitung zur Verfügung stehen muss. Nur so lässt sich ein lebendiger Commons erhalten.

Es findet also eine Neubewertung des Verhältnisses kollektiv erarbeiteter Ressourcen zu den Leistungen des Individuums statt. In der bürgerlich-liberalen Gesellschaft wurde, auf Grundlage des Eigentumskonzeption von John Locke, der Anteil der kollektiven Produktion gegenüber dem durch individuelle Arbeit geschaffenen Wertes als so gering angesehen, dass die individuellen Produzent_innen das Rechte in Anspruch nehmen konnten, sich den ganzen Wert der Arbeit anzueignen, auch wenn darin noch Spurenelemente des Gemeinsamen vorhanden waren. Dem entgegen wird nun ein Modell entwickelt, in dem die kollektive Leistung so hoch bewertet wird, dass die vollständige, private Aneignung der Arbeit, die aus einer Verbindung von individueller und kollektiver Leistung besteht, als problematisch angesehen wird. Die Perspektive ist aber nicht, das Kollektive über das Individuelle zu stellen, sondern zu betonen, dass der Zugriff auf die kollektive Ressource die Voraussetzung ist, um überhaupt individuelle Leistungen erbringen zu können. Das Interesse an der Offenhaltung dieser kollektiven Ressource steht also nicht im Widerspruch mit einer zunehmenden kulturellen Individualisierung und Fragmentierung, sondern bildet die Basis dieses Prozesses. Diese Erfahrung erlaubt es, Individualität und Solidarität neu zu denken, denn nur im Gemeinsamen lässt dich das Individuelle realisieren. Das Gemeinsame des Teilens muss der durchaus auch konfliktreichen Fragmentierung der Kulturproduktion nicht widersprechen. "In our society", schreibt Manuel Castells, "the protocols of communication are not based on the sharing of culture but on the culture of sharing." Dennoch kann Teilen als ein allgemeiner Grundwert einer entstehenden kommunikativen Praxis eine Basis darstellen, auf der sich solidarische Institutionen aufbauen lassen.

Um diesen kulturellen Commons zu realisieren, bewahren und auszubauen, ist bereits viel passiert. Millionen kultureller Artefakte wurden in den letzten Jahren unter freien Lizenzen, die ihre Verbreitung und Bearbeitung erlauben, veröffentlicht. Das Paradigma der Freien Software ist fest etabliert. Neue Modelle des Open Access reformieren die Wissenschaftspublikation. Der kulturelle Commons umfasst ebenso riesige Gemeinschaftswerke, wie die Wikipedia oder den Linux Kernel, wie individuelle Werke aller Genres. Altes, das besser zugänglich gemacht wird (etwa gemeinfreie Werke durch das Projekt Gutenberg), wie auch die zeitgenössische Kulturproduktion (etwa im sich ständig mutierenden Bereich der elektronischen Musik). Dies ist gut dokumentiert. An dieser Stelle ist von Interesse, dass sich all diese strukturellen Veränderungen der Kultur und ihrer Akteur_innen weitgehend jenseits der offiziellen Kulturpolitik vollzogen haben.

Herausforderungen für die Kulturpolitik

Für die Kulturpolitik stellen sich mindestens zwei Herausforderungen. Zum einem muss sie neue Rahmenbedingungen bestimmen, die eine kulturelle Entwicklung unterstützen, die die beiden Pole einer allgemein zugänglichen, kollektiven Ressource und von hoch-differenzierten individuellen Prozessen und Artefakten mit einander verbinden kann. In der Kulturpolitik kann es demzufolge nicht mehr nur darum gehen, Verteilungskämpfe zwischen Institutionen, in denen einige wenige professionelle Kulturschaffende einem mehr oder minder passiven Publikum präsentiert werden, zu moderieren. Vielmehr muss sie sich der Frage stellen, wer eigentlich die Kulturschaffenden sind und wie neue Formen kultureller Produktion institutionell unterstützt werden können. Das bedeutet zum einen, dass Bedingungen geschaffen werden müssen, dass die potentiell weit verbreitete Fähigkeit, als Produzent_in in Erscheinung zu treten, auch aktualisiert werden kann. Sonst vertieft sich die bereits bestehende Tendenz, dass die gut gebildeten Schichten überdurchschnittlich stark von den neuen Möglichkeiten profitieren, und bestehende Stratifizierungen reproduziert werden. Das muss dazu führen, dass die künstliche Trennung zwischen Kultur- und Bildungspolitik neu überdacht wird. Die Kulturpolitik muss sich ebenfalls dafür einsetzen, dass gewisse Dimensionen der Kultur den Privatisierungstendenzen entzogen werden, und ihr Charakter einer kollektiven Ressource, die die Grundlage für neue Prozesse und Artefakte bildet, bewahrt und ausgebaut wird. Dazu muss sie sich auf das politisch hoch umstrittene Feld der geistigen Eigentumsrechte begeben. Für diese beiden Aufgaben – Bildungspolitik und Eigentumsdebatten – ist die Kulturpolitik schlecht gerüstet, weil sie sich bequem im Schatten ihrer selbstgewählten Marginalität sonnt. Die Zeichen stehen aber auf Sturm, denn der innere Widerspruch im Feld der Kultur scheint sich zu verschärfen, da sich beide Entwicklungstendenzen verstärken.

Jenseits der Kulturpolitik

Eine neue solidarische Politik kann nicht auf dem Feld der Kultur alleine geschaffen werden, ebenso kann eine Kritik liberal-kapitalistischer Eigentumsordnungen nicht auf dem Feld der Kultur alleine erfolgreich sein. Was Kultur kann, ist allerdings neue Erfahrungen des Gemeinsamen zu artikulieren und so vor allem normativen Dimensionen der Entsolidarisierung entgegenwirken. Um die kollektiven Dimensionen anzugehen, ist es wichtig, die Auseinandersetzungen um den Zugang zu und Umgang mit grundlegenden Ressourcen, wie sie im Feld der Kultur weit vorangeschritten ist, mit andern Kämpfen, etwa im Gebiet der Ökologie (etwa Schutz der Luft, der Meere, der Wälder) oder Sozialpolitik (etwa Grundeinkommen) zu verbinden. Der Begriff der Commons oder Gemeingüter erlaubt es hier, eine Brücke zu schlagen zwischen sehr alten Formen der gemeinschaftlichen Organisation und sehr neuen, zwischen materiellen und immateriellen Ressourcen. Der Begriff der Commons könnte es sogar ermöglichen, den in der Moderne aufgerissenen Graben zwischen Natur und Kultur, zwischen natürlichen und kulturellen Dimensionen des Lebens aufzuheben, indem er die gemeinsamen Ressourcen bezeichnet, die als Voraussetzung zur individuellen Entfaltung in hochdifferenzierten Kulturen allen Menschen zugänglich sein müssen.

Aus: "Nach dem Ende der Politik - Texte zur Zukunft der Kulturpolitik III" Konrad Becker, Martin Wassermair (Hrsg.) Loecker Verlag 2011, s.127-141