In: Springerin, Heft 2/11
Die beiden radikalsten Medienprojekte der letzten 10 Jahre, The Pirate Bay (TPB) und WikiLeaks, haben in kürzester Zeit haben sie entscheiden dazu beigetragen, bestehende „Kontrollprinzipien“ diskursiver Ordnungen ausser Kraft zusetzen. In der Folge entsteht der Raum für neue diskursive Formationen, deren Konturen erst unscharf zu erahnen sind.
TPB, 2003 ins Leben gerufen, trug wesentlich dazu bei, file-sharing zu einem Massenphänomen zu machen. Zwar nach wie vor der wichtigste BitTorrent Tracker (mit momentan über 27 Millionen aktiven NutzerInnen), aber es gibt unzählige anderer, geschlossener und offener Tracker, so dass file-sharing nicht mehr vom Schicksal dieses einen Projekts abhängt. Mehrere Wellen der Strafverfolgung, sowohl gegen Tracker als auch gegen individuelle Nutzerinnen, konnten weder die Infrastruktur noch die Popularität von file-sharing in relevanter Weise schwächen. WikiLeaks, das Ende 2006 an die Öffentlichkeit getreten war, etablierte ein neues Modell wie Insider grosse Datensätze – wie sie in allen Organisationen vorhanden sind – anonym an die Öffentlichkeit bringen können, um verborgene Missstände aufzuzeigen. Egal wie es mit WikiLeaks als spezifische Organisation weitergeht, es zeichnet sich jetzt schon ab, dass das Prinzip der Leaks ganzer Datenbanken weiter gehen wird. WikiLeaks selbst ist nach wie vor hoch aktiv und bereits positionieren sich selbsternannte Nachfolger.
TPB und WikiLeaks machen im Grunde nur im grossen, organisierten Umfang, was was tausende Internet-NutzerInnen jeden Tag in viel kleinerem Umfang ebenfalls machen. Sie lassen Informationen ausserhalb der dafür vorgesehen Kanäle zirkulieren, und sei nur, dass sie Firmeninternas unabsichtlich in privaten Blog publizieren, oder dass sie aus einem langen Film einen kurzen Clip schneiden und diesen ihren Facebook Freunden zeigen.
In diesem Sinne stehen TPB und WikiLeaks, bei aller Unterschiedlichkeit der Organisationen und ihrer Zielsetzungen, für einen gemeinsamen Trend, dessen wirkungsmächtigste Exponenten sie sind, der aber weit über sie hinausgeht. Foucault beschrieb in Die Ordnung des Diskurses einige der Ausschliessungs-, Verknappungs- und Kontrollmechanismen, die es zentralen gesellschaftliche Institutionen ermöglichen, den Diskurs selektieren und kanalisieren und damit seine Kräfte und Gefahren zu bändigen, beziehungsweise in ihrem Sinne zu mobilisieren. Einige dieser Mechanismen sind erheblich geschwächt worden, denn viele Institutionen stehen vor einem praktischen Paradox. Zum einen müssen die Informationsgüter, die sie produzieren – sei es nun Filme, Musik oder interne Akten – global zirkulieren, sonst verlieren sie ihren Daseinszweck. Zum anderen sind diese Institutionen darauf angewiesen, diese Zirkulation genau kontrollieren zu können. Ihre Existenz beruht darauf, die Informationen überall und jederzeit anbieten und gleichzeitig bestimmen zu können, wer, wann, wo und unter welchen Bedingungen Zugang zu diesen Gütern bekommt. Für die Kulturindustrie bedeutet das, dass sie nicht nur den Preis des Zugangs zu ihren Produkten festlegt, sondern auch genau bestimmt, was jeder einzelne genau mit den Produkten machen darf, zu denen Zugang gewährt wurde. Für die allermeisten ist dabei die Rolle des stummen „Endverbrauchers“ vorgesehen, der die Produkte nur anschauen / anhören darf. Alle weiteren Handlungen erlaubt die Ordnung nicht. Gleichzeitig müssen die Produkte allgegenwärtig sein, um überhaupt das Verlangen danach generieren zu können. Für global operierende Institutionen, sei es nun Banken, Militärs oder diplomatische Dienste, ist die rasche und effiziente Zirkulation der Informationen die organisatorische Grundlage, um überhaupt als Netzwerke koordiniert operieren zu können. Würde die Zirkulation verlangsamt oder ganz eingestellt, wüsste eine Einheit nicht mehr, was die andere macht und die Steuerung, sei es durch horizontale Kommunikation oder durch die oberste Management- oder Befehlsebene, würde zusammenbrechen. Um allerdings Vertraulichkeit und Geheimhaltung sichern zu können, muss genau bestimmt werden können, wer unter welchen Umständen Zugang zu diesen Informationsströmen erhält.
Diese Spannung zwischen breiter Zirkulation und enger Kontrolle hat sich in den letzten Jahren deutlich verschärft. Zum einen ist die Globalisierung in allen Bereichen fortgeschritten und die Komplexität der gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse erhöht sich immer weiter. Um unter diesen Bedingungen agieren zu können, ist es notwendig, grosse Informationsmengen effizient verarbeiten zu können, effizient bedeutet in diesem Fall, dass sie ohne Verzögerung aggregiert, verknüpft, ausgewertet und verteilt werden können, um damit die Handlungen einer grossen Zahl teilautonomer Akteure koordinieren zu können. All dies erfordert eigentlich, dass Informationen frei zirkulieren können. Es war ja eine der Haupterkenntnisse der Analyse der Geheimdienste nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001, dass viele Informationen zwar vorhanden waren, dass aber institutionelle Barrieren verhinderten, dass diese richtig und schnell verknüpft und ausgewertet wurden. Als Antwort darauf wurde ein neues, für alle Mitglieder der diversen Geheimdienste offenes Kommunikations- und Archivsystem (SIPRNet – Secret Internet Protocol Router Network) geschaffen. Bradley Manning, ein 23 jähriger Soldat ist wurde Ende Mai 2010 festgenommen unter dem Verdacht, aus eben diesem Netzwerk jene Daten an WikiLeaks weitergeleitet zu haben, die später als „Collateral Murder“, „Afghan War Logs“, „Iraq War Logs“ und „US Embassy Cables“ veröffentlicht wurden.
Für die Unterhaltungsindustrie bedeutet diese Entwicklung nicht nur, dass ihre oft sehr aufwendigen Produkten in arbeitsteiligen, global verteilten Prozessen hergestellt werden, sondern dass im Vorfeld der Veröffentlichung eine Vielzahl von Multiplikatoren angesprochen werden müssen: eine endlos wachsende Zahl massenmedialer Kanäle, aber auch neue Meinungsmacher wie Bloggers, Internet Foren und wichtige Knotenpunkte in sozialen Netzwerken. Auch hier vergrössern strukturelle Entwicklungen stetig die Zirkulation, und das noch bevor der Kreis nochmals enorm erweitert wird, wenn die Produkte öffentlich lanciert werden. Aber, es werden nicht nur zahlenmässig mehr Akteure, sondern sie werden auch kulturell immer unterschiedlicher und damit wird es immer schwieriger gemeinsame, oftmals implizite Normen und Vertraulichkeiten aufrecht zu halten. Diese kulturelle Heterogenität ist aber notwendig, um globale Prozesse, die ja immer lokal verankert sein müssen, abwickeln zu können.
Es wäre eigentlich am effizientesten, möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Personen freien Zugang zu den Informationsgütern zu geben. Die Open Source Bewegung hat das schon lange erkannt. Dem stehen aber vielfach Geschäftsmodelle und Geheimhaltungsinteressen entgegen, die eben darauf beruhen, den Zugang genau kontrollieren zu können. TPB und WikiLeaks, gemeinsam mit den unzählbaren kleinen und grösseren Akten der Überführung von Informationsgüter aus kontrollierten in unkontrollierte Zirkulationsysteme, erhöhen nun die Anforderungen an die Kontrolle dermassen, dass sie drohen, die Zirkulation selbst zum Stillstand zu bringen. Die Unterhaltungsindustrie hat diese bereits vor Jahren erlebt, als sie feststellen musste, dass sich ihre Produkte mit Kopierschutz nicht verkaufen lassen.
Die durch TPB und WikiLeaks herbeigeführte Schwächung der Kontrollmechanismen führt aber nicht nur, dass Menschen gratis Zugang zu Dingen bekommen, für die sie im kontrollierten System bezahlen müssten, oder dass sie Dinge sehen, die nicht für die bestimmt waren. Untrennbar damit verbunden ist, dass diese damit Dinge machen, die ihnen die Struktur der Diskurse bislang verunmöglichte. Denn auch das, was Foucault die Verknappungsmechanismen der Autorenschaft genannt hat, werden geschwächt. Plötzlich können nicht-autorisierte Specherinnen auftreten und ganz andere Dinge in die Diskurse einbringen. Auf der einen Seite sehen wir eine Explosion von Remixes, Fan-Edits, Do-it-Yourself Produktionen und anderen Formen der Appropriation bestehender Informationsgüter für neue Kontexte und Verwendungszwecke. Der Unterschied zwischen Endprodukt und Rohmaterial löst sich zu Gunsten diskursiver Transformationsketten auf. Aus der einen Version, die diverse Kontrollmechanismen bisher stabil halten konnten, werden multiple Versionen, so zwar viele wie es Interessenlagen gibt. Bleibt ein Informationsprodukt unter diesen Bedingungen stabil, bedeutet das im Grunde genommen, dass sich niemand genug dafür interessiert, um etwas damit anzufangen.
WikiLeaks steht für einen ähnlichen Prozess. Denn es werden nicht nur Informationen aus dem Inneren geschlossener Organisationen an Journalisten weitergeben, die dann daraus ihrer Geschichten machen – hast geschieht seit eh und je ganz ohne WikiLeaks – sondern das Rohmaterial selbst wird veröffentlicht. Die Praxis, die WikiLeaks in letzter Zeit angewandt hat, dass sie ausgewählten Medien Vorabzugang gewährt, ändert daran nichts, denn deren „Exklusivität“ ist zeitlich eng begrenzt. Die interessierte Öffentlichkeit ist nicht mehr auf die eine vom Journalisten vorlegte Interpretation angewiesen, sondern sie kann auf Grundlage des selben Material eigene Erzählungen entwickeln, die auf anderen Verwertungszusammenhänge ausgerichtet sind. Diskurse zu formen ist nach wie vor wichtig, denn die Dinge, auch nicht interne Akten, murmeln ihren Sinn nicht einfach vor sich hin. Aber dank ihrer freien Verfügbarkeit lassen sie sich in eine Vielzahl einander ergänzender oder konkurrierender Diskurse einfügen. Wie revolutionären Umstürze in der Arabischen Welt zeigen, kann das Auftreten neuer Sprechergruppen in veränderten diskursiven Formationen politisch höchst folgenreich sein.
Natürlich ist die Vorstellung eines komplett freien Diskurses eine Illusion, bereits Verständlichkeit und Aufmerksamkeit setzen Grenzen, ebenso die Verfasstheit alter wie neuer gesellschaftlicher Institutionen, in die alle Diskurse materiell eingebettet sind. Aber diese Verfasstheit ändert sich. In zunehmendem Masse werden etwa file-sharing Netzwerke aktiv eingesetzt, um bisher marginalisierte Kulturproduktionen (etwa unabhängige Dokumentarfilme, die nicht TV oder Kino Formaten entsprechen) an eine grössere Öffentlichkeit zu bringen. Die innovativeren Teile der Kulturindustrie lösen sich von ihrer Fixiertheit auf die Kontrolle der Kopie. Wie WikiLeaks die geheimen Diskurse innerhalb geschlossener Organisationen verändert, ist noch nicht abzusehen. Dass WikiLeaks die Entwicklung hin zu einen offenen Datenjournalismus vorantreibt, dessen Aufgabe es ist, grosse allgemein zugängliche, aber also solche unverständliche Datenmengen zu interpretieren, scheint hingegen wahrscheinlich, denn auch andere Kräfte wirken in diese Richtung (etwa diverse „open data“ Kampagnen). Im Moment sind diese neuen diskursiven Ordnungen aber noch sehr schwach ausgeprägt. In der Phase des Übergangs steht noch die Unordnung, und damit immer auch verbunden, die Freiheit des Diskurses im Zentrum.