Tagesanzeiger, Zürich
Montag, 8. Oktober 2001

In den Fängen der Netzgesellschaft

Manuel Castells' Klassiker über die Informations- gesellschaft wird nun auch auf Deutsch übersetzt. Es ist ein Standardwerk, das einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leistet.

Von Felix Stalder [homepage // contact]

Manuel Castells' Ambitionen sind enorm. Er ist bestrebt, die entstehende Globalgesellschaft als Ganzes soziologisch zu erfassen. Schon das Unterfangen deutet an, dass die Sozialwissenschaften endlich ihre postmodernen Selbstzweifel zu überwinden beginnen. Castells' Hauptwerk, "Das Informationszeitalter. Wirtschaft. Gesellschaft. Kultur", dessen englische Originalversion mit nachhaltigem Interesse und lobender Kritik aufgenommen wurde, zeigt zwei Dinge. Erstens, dass es Castells in der Tat gelungen ist, einen wichtigen Beitrag zur Deutung der Gegenwart zu leisten und, zweitens, dass sich die einst verbreitete Skepsis gegenüber solchen "grand narratives" weit gehend verflüchtigt hat. Sein monumentales Werk, drei Bände von insgesamt über 1500 Seiten Umfang, wird nun auch auf Deutsch erscheinen.

Neue historische Epoche

Manuel Castells, Professor für Soziologie an der University of Berkeley und in seiner Heimatstadt Barcelona, argumentiert, dass wir in eine neue historische Epoche, das Informationszeitalter, eintreten und dass damit das Industriezeitalter zu Ende geht. Er stützt dies auf die Beobachtung, dass - einfach durch die neuen Informationstechnologien - sich die materielle Basis der Gesellschaften grundlegend verändert und damit ein historisch neues Verhältnis zwischen Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft entsteht.

Die Wirtschaft hat sich bereits am weitgehendsten verändert. Der Kapitalismus ist global dominant wie nie zuvor. Das Kapital hat gegenüber der Arbeitnehmerschaft enorm an Macht gewonnen und treibt eine Reorganisierung der Strukturen innerhalb der Unternehmen wie auch zwischen den Unternehmen voran. Traditionell gewachsene Firmen und Sektoren geraten unter Druck durch netzwerkartige Organisationsformen, die flexibler auf die sich schnell verändernden globalen Marktbedingungen reagieren und so das Gebot der allmächtigen Finanzmärkte nach Shareholder Value besser erfüllen können. Der neue Weltmarkt eröffnet denjenigen, die darin agieren können, enorme Gewinn- und Entwicklungschancen. Damit vergrössert sich allerdings auch das Wohlstandsgefälle zwischen den Gewinnern und den Verlierern der wirtschaftlichen Globalisierung. Anders als bei der Kolonialisierung des Industriezeitalters verläuft das Wohlstandsgefälle des Informationszeitalters nicht mehr einfach zwischen Norden und Süden, sondern quer durch alle Gesellschaften hindurch, auch wenn sich regionale Entwicklungsunterschiede zum Teil vertiefen.

Die Nationalstaaten, gewohnt als grösste Organisationseinheit relativ autonom agieren zu können, sehen sich verstärkt mit Problemen konfrontiert, für deren Lösung sie als einzelne Einheiten zu klein sind. Die globalen Märkte, Immigration, die Bedrohung der Umwelt und das organisierte Verbrechen sind nur einige der Bereiche, die der Ordnungsmacht des einzelnen Nationalstaates entwachsen sind, nicht zuletzt dank der selektiven Deregulierung, mit der seit den 1980er-Jahren die Globalisierung der Wirtschaft vorangetrieben wird. Die neuen, globalen Herausforderungen zwingen die Staaten, das internationale Vertragswerk massiv auszubauen und sich dabei auf oftmals demokratisch nur schwach legitimierte Institutionen wie die Weltbank und die Welthandelsorganisation zu stützen. Während die Demokratie nominell einen Siegeszug angetreten hat - eine Mehrheit der Staaten bezeichnet sich selbst als demokratisch -, befindet sich die real gelebte Demokratie in einer Krise. Immer mehr vitale Fragen werden auf einer politischen Ebene behandelt, auf die die institutionellen Partizipationsinstrumente der Bürger, Wahlen und Abstimmungen, kaum mehr einen Einfluss zu haben scheinen.

Zerrüttetes Patriarchat

Die Zivilgesellschaft befindet sich ebenfalls in einer tiefen Umwandlung. Der massenhafte Einbezug von Frauen ins Erwerbsleben, oftmals unter unfairen Bedingungen, hat das familiäre Patriarchat in den Grundfesten erschüttert. Eine immer grössere Anzahl von Frauen (und Kindern) ist nicht mehr gezwungen, sich aus wirtschaftlichen Gründen im Privatleben Männern unterzuordnen und damit erstmals in der Lage, überkommene Rollenmodelle in Frage zu stellen. Aber nicht nur die Rolle des Familienoberhaupts zerbröckelt, auf vielen Ebenen sind traditionelle Identitätsmuster in die Krise geraten. Berufsrollen etwa, zunehmend als kurzfristig und unverbindlich empfunden, oder die Nationalkultur, unter Druck einer sich ausbreitenden Globalkultur und einem Wiedererwachen von Regionalkulturen, verlieren an Identifikationskraft. Massenhaft wird nach Ersatz gesucht.

Neue soziale Bewegungen

Castells unterscheidet zwei Richtungen dieser Suche. Ein Teil der Identitätsbewegungen ist rückwärts gewandt und versucht verloren gegangene Muster durch Radikalisierung zu beleben. Das Spektrum reicht von religiösem Fundamentalismus - vorhanden in allen Weltreligionen -, der die Säkularisierung der Moderne bekämpft, bis zum illusionären Nationalismus à la SVP, welcher der Globalisierung einen Rückzug in eine mythologisierte Heimat entgegenstellt. Vorwärts gewandt sind für Castells etwa die Frauen-, Umwelt- oder Schwulenbewegung, die Wertsysteme vertreten, welche sich vom patriarchalen Kapitalismus abzugrenzen versuchen, ohne auf eine idealisierte Vergangenheit zurückzugreifen. Hier fasst Castells' Kulturbegriff leider etwas kurz, denn für ihn manifestiert sich sozialer und kultureller Wandel in erster Linie über das, was seit den 1970er-Jahren neue soziale Bewegungen genannt wird. Andere Phänomene - etwa die Ausbreitung elektronischer Kommunikationsmedien als Basis neuer kultureller und sozialer Organisationsmodelle ausserhalb der Wirtschaft - finden kaum Castells' Beachtung.

Castells detailliert alle diese Phänomene in einer unheimlichen, einfach zu bewältigenden Materialfülle. Die meisten dieser Entwicklungslinien wurden jeweils einzeln schon von anderen analysiert, und Castells macht reichlich von bestehender Literatur Gebrauch. Castells ist allerdings der Erste, der einen überzeugenden Vorschlag macht, wie alle diese widersprüchlichen Phänomene in ein einheitliches Gesamtbild integrierbar sind.

Die zentrale These, die Castells die enorme Menge an empirischem Material, auf die er seine Bestandsaufnahme der Gegenwart stützt, zu strukturieren und als ein einheitliches Bild zu präsentieren erlaubt, ist überraschend einfach und effektiv: "Unsere Gesellschaften sind in zunehmendem Masse um den bipolaren Gegensatz zwischen dem Netz und dem Selbst herum strukturiert." Für Castells bedeutet dies eine "strukturelle Schizophrenie zwischen Funktion und Sinn", da zwei oft widersprüchliche Tendenzen die Dynamik der Gegenwart prägen: Das Netz steht für die Tatsache, dass die einflussreichsten Prozesse in Wirtschaft, Politik und Medien immer stärker in globalen, flexiblen Netzwerken organisiert werden, die zunehmend unabhängig von den lokalen, ortsgebundenen Realitäten werden. In anderen Worten: Die Logik der Netzwerke, "der Raum der Flüsse", dominiert immer stärker den "Raum der Orte", die physische Realität, in der wir leben. Diese gesichtslose, funktionale Logik untergräbt gewachsene Institutionen, die wichtige Beiträge zur Identitäts- und Sinnstiftung lieferten. Das Selbst wiederum ist für Castells ein Sammelbegriff für all die Phänomene, die in Versuchen begründet sind, überkommene Identitäten neu zu beleben oder neue Identitäten zu schaffen.

Was Castells von den gängigen Interpretationen in diesem Bereich unterscheidet, ist, dass er nicht alle diese Phänomene als rückwärts gewandt betrachtet, sondern als einen integralen Bestandteil der Gegenwart erfasst, der die Globalisierung teils herausfordert, teils aber auch vorantreibt.

Das Netz und das Selbst

Castells' Analyse ist dort am stärksten, wo das Zusammenspiel von Netz und Selbst klar hervortritt. Die Legitimationskrise demokratischer Institutionen zum Beispiel ist in seiner These eine Folge der widersprüchlichen Anforderungen, die an sie gestellt werden. Der Nationalstaat ist keineswegs überholt, sondern nach wie vor zentral, um internationale Abkommen zu schliessen und in die Realität umzusetzen. Die Weigerung der USA, das Protokoll von Kyoto zu ratifizieren, macht diesen Punkt überaus deutlich: Je stärker sich der Staat auf der internationalen Ebene engagieren muss, desto weniger kann er die speziellen Interessen seiner Bürger repräsentieren. Genau dies aber wird immer stärker von den Bürgern gefordert, wobei die Interessen der Bürger im Zuge neuer Identitätsbildungen sich fragmentieren. In einer Zeit, in der Bürger mehr Repräsentation verlangen, bietet der Staat immer weniger an.

In der globalen Kriminalität verbinden sich das Netz und das Selbst höchst effektiv. Aufbauend auf starken regionalen Identitäten, die Mafia in Sizilien, die Kokainkartelle in Kolumbien, die chinesischen Triaden, hat sich das organisierte Verbrechen vernetzt und globalisiert. Diese Netzwerke handeln auf dem globalen Marktplatz mit allem, was Profit verspricht: Drogen, Waffen und Menschen. Der Einbezug der Finanzmärkte, in denen die enormen Profite - gemäss Uno-Schätzungen mehr als 750 Milliarden Dollar pro Jahr - gewaschen und reinvestiert werden, macht zudem eine scharfe Trennung krimineller und legaler Profite immer schwieriger.

Pessimistischer Unterton

Castells enthält sich wohlweislich des Urteils, ob das Informationszeitalter, das er so detailliert beschreibt, als positive oder negative Entwicklung zu bewerten ist. Ein pessimistischer Unterton klingt allerdings hin und wieder durch. Ebenso wenig erteilt er Ratschläge, wie denn die Probleme der Globalgesellschaft anzugehen seien. Diese Bescheidung auf die Analyse macht Sinn, haben doch Handlungsanweisungen, die direkt aus abstrakten Theorien abgeleitet wurden, in der einzigartigen Brutalität des zu Ende gegangenen Jahrhunderts eine wesentliche Rolle gespielt.

Castells' Informationszeitalter verdient den Ruf eines Klassikers und wird wohl noch für lange Zeit Massstäbe für die weitere soziologische Forschung setzen, ein Klassiker allerdings, der wegen seines Umfanges und Stils (alleine der erste Band enthält über 700 Fussnoten und 30 Seiten Bibliografie), hohe Anforderungen an den Leser stellt.

Manuel Castells: Das Informationszeitalter. Wirtschaft. Gesellschaft. Kultur. Leske und Budrich, Leverkusen 2001. 500 Seiten, 68 Fr. Das Buch kommt Ende Oktober in den Handel.

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