Wikipedia: Wie sich eine Encyclopaedie selbst verfasst.
Felix Stalder
[für Tagesanzeiger 14.02.2003]

Als Dennis Diderot 1751 damit begann, die Encyclopédie trotz erheblichen Widerstands zu publizieren, waren er und seine Mitstreiter bestrebt, Wissen aus den geschlossenen Gesellschaften der Stände und Zünfte zu befreien, um es der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Ganz im Geist der Aufklärung war die Förderung des Fortschritts durch Freiheit, Wissen und Bildung ein zentrales Anliegen dieses Projektes, dem Diderot mehr als zwei Jahrzehnte seines Lebens widmen sollte. Knapp 250 Jahre später steht wiederum das Projekt einer Encyclopaedie an zentraler Stelle im Ringen um die Wissensordnung einer Gesellschaft, die sich im tiefgreifenden Wandel befindet. Wikipedia [1] heisst das Projekt, dessen Ziel nichts anderes ist, als die definitive, frei zugängliche, frei veränderbare Encyclopaedie auf dem Internet zu schaffen.

Wie die Encyclopédie der philosophes sucht auch Wikipedia eine zeitgemässe Antwort auf die doppelte Frage wer denn autorisiert sei, Wissen zu produzieren und die Bedingungen zu setzen, unter denen die Allgemeinheit Zugang zu diesem Wissen erlangt. Wiederum geht es um eine Ausseinandersetzung zwischen dem Prinzip der Offenheit zum Wohle der Allgemeinheit und demjenigen der Kontrolle des Wissens im Interesse einer Minderheit.

Heute setzt sich das ancien régime allerdings nicht mehr aus Kirche, Stände oder Zünfte zusammen, sondern es sind die grossen Verwertungsindustrien, die mit allen Mitteln versuchen, den freien Austausch von Information über die globalen Datennetze zu verhindern. Dies geschieht über die Ausweitung der Urheberrechte zu Gunsten der Verwerter. In den USA und gerade jetzt auch im EU Raum werden die entsprechenden Gesetze laufend verschärft. Solche Gesetze lassen sich in der momentanen Praxis allerdings nur schwer durchsetzen. Trotz des Verbots von Napster werden Musik Files immer noch millionenfach frei über's Internet getauscht. Heute mehr denn je. Deshalb soll mittels technischer Schutzsysteme überhaupt verunmöglicht werden, urheberrechtlich geschützte Daten ohne explizite Lizenz des Verwerters für irgendeinen Zweck - sei es auch privat oder für den Unterricht - kopieren zu können. Bereits heute sind viele Musik CDs auf dem Markt, die gar nicht mehr auf die Festplatte kopiert oder auch nur im Laufwerk eines Computers abgespielt werden können.

Wikipedias Antwortauf die Frage nach Produktion von und Zugang zu Wissen in der Informationsgesellschaft ist ebenso radikal wie erfolgreich. Wer soll Wissen zur Encyclopaedie beisteuern können: Jeder. Wer soll Zugang zu diesem Wissen haben: Alle, ohne Einschränkungen. In der Tat, dank Wikipedias technischer Plattform (einem sogenannten Wikiweb) kann jeder, auch der einmalige Besucher, fast jede Seite direkt und ohne Bewilligung verändern. Mittels einer spezifischen Lizenz (GNU Free Documentation License) wird gesetzlich festgeschrieben , dass auch in Zukunft diese Resource frei zugänglich bleibt und von niemandem exklusiv kontrolliert werden kann. Während man bei einen solchen Ansatz Chaos und einige wenige Einträge von niedriger Qualität erwarten würde ist genau das Gegenteil eingetreten. Seit das Projekt vor gut zwei Jahren lanciert würde ist es ausserordentlich erfolgreich. Nach nur nur sechs Wochen gab es bereits 1,000 Einträge, nach einem Jahr bereits 15,000 und heute sind es knapp unter 100,000. Zum Vergleich, die knapp 200 jährige Encyclopedia Britannica, die nur gegen Gebühr online zur Verfügung steht, besteht aus rund 75,000 Einträgen

Natürlich sind nicht alle Einträge von durchgängiger Qualität, gleicher Tiefe und nicht alle Fachgebiete sind gleichmässig behandelt. Aber nach nur zwei Jahren lässt sich doch eine Dynamik beobachten, die einem durchaus hoffnungsvoll für die Zukunft dieses Projekts stimmen kann. Nicht nur nimmt die Anzahl der Artikel nach wie vor rapide zu, sondern viele der Artikel werden auch immer besser. Dies hat damit zu tun, dass mehrere Leute an einem Artikel arbeiten und graduell Verbesserungen anbringen können. Dank eines Mechanismus, der es erlaubt,frühere Versionen wiederherzustellen, ist es ein Leichtes, Schäden zu reparieren, die durch unsachgemässes Editieren entstanden sind.

Erstaunlich ist nicht nur, dass ein Projekt, das vollkommen auf freiwilligen Beiträgen beruht, sich so schnell entwickeln kann, sondern auch, dass die Abwesenheit einer zentralen verlegerischen Kontrolle sich nicht negativ auf die Qualität des Endproduktes auswirkt. Sofern man bei einem solch offenen und dynamischen Projekt je von “Endprodukt” sprechen kann.

Grosses Vorbild der Wikipedia ist Open Source Bewegung, die gezeigt hat, dass es möglich ist, hochstehende Informationsprodukte (z.B. ein Betriebssystem oder einen Webserver) herzustellen in einer Weise, die gleichzeitig allen Interessierten offenen Zugang gewährt und mindestens so effizient ist, wie die Produktion innerhalb einer traditionellen Firma. Wikipedia, und eine Vielzahl ähnlich gelagerter Projekte, zeigt nun, dass ein solcher offener Ansatz auch ausserhalb der Softwareproduktion erfolgreich sein kann. Noch ist es zu früh, um das langfristige Schicksal mit Sicherheit voraussagenzu können, aber die bisherige Entwicklung macht deutlich, dass die wirklich tiefgreifenden kulturellen Veränderungen durch das Internet gerade erst begonnen haben.

[1] http://www.wikipedia.org