[Katalogtext fuer die Installation "o.T." von Max Phillip Schmid und Beat Brogle, Kunsthaus Baselland, 12.10.2003-16.11.2003]

Voyage au bout de l'image

Felix Stalder

Autumn leaves
pretty as can be
everyone can see
everyone except me*


Vor unseren Augen zerfallen die Bilder. Fünf Köpfe, Männer, die meisten alt, schauen uns an. Oder doch nicht? Die Augen sind offen, sie könnten aber eben so gut geschlossen sein. Ihre wie unsere. Wir befinden uns in einem Grenzbereich, zwischen Schlaflosigkeit und Traum, zwischen Form und Formlosigkeit, zwischen Leben und Tod.

Die Männer, die uns hier gegenüberstehen, sind keine realen Personen, obwohl ihre individuellen Züge deutlich, ja überdeutlich erkennbar sind. Sollten wir ihnen auf der Strasse begegnen wird uns das unangenehme Gefühl eines Deja-Vu beschleichen, wie wenn plötzlich ein Fetzen eines längst vergessenen Traums zurückkehrt.

Die Bilder zerfallen. Die Köpfe, vermeintlich einfache Portraits, sind von einer durchdringenden Künstlichkeit. Auf dem Seziertisch der digitalen Bildbearbeitung sind die Bilder in ihre Einzelteile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt  worden. Die so entstandenen Wesen strahlen die Natürlichkeit Frankensteins aus. Nicht ganz tot, aber doch nicht lebendig. Zerhackt und geloopt sind die Gesichter verzogen und verzerrt, gerade noch genug, um sie als solche wahrzunehmen, aber eindeutig keine Abbilder mehr.

Die Bilder zerfallen und mit ihnen nicht nur die Menschen. Auch die Natur oder was davon noch im kahlen, winterlichen Gestrüpp zu erahnen ist. Nicht einmal die vollkommen künstlichen Welten, generierte Innerlichkeiten artifizieller Organik, geben uns Halt. Alles gleitet ab in Formlosigkeit, ohne deshalb je abstrakt zu werden. Statt dessen erinnern uns die Bilder an das, was sie einst waren, an das, was sie nicht mehr sind.

Nicht nur die Bilder zerfallen, sondern auch der Bildträger. Die Bänder sind durchzogen von Bildstörungen, die einerseits die Instabilität der Bilder wie auch ihre Künstlichkeit betonen.

Was halten Bilder aus, bevor sie ihre Bedeutung verlieren? Offensichtlich einiges. Unsere mediale Alltagsumwelt hat einen extrem hohen Abstraktionsgrad erreicht und wir haben gelernt, damit umzugehen. Wir sind kritische KonsumentInnen der Bilderwelten geworden, die uns umgeben, und fallen dennoch immer wieder auf sie herein. Wir haben gelernt, hochauflöslichen, perfekten Bildern zu misstrauen, sie als künstlich und manipuliert anzusehen, nur um die Wahrheit in verwackelten, gepixelten Bildern finden zu glauben.

Das Leben imitiert die Kunst. Was uns Atom Egoyan und später die Dogma Filmer um Lars van Trier experimentell vorgeführt haben, das Pentagon hat es im letzten Golfkrieg propagandistisch umgesetzt. In der Körnigkeit der Bildern, in ihrer medialen Materialität und Unzulänglichkeit wollen wir, hyper-kritisch und leichtgläubig zugleich, das Leben erkennen. Uns bleibt auch wenig anders übrig, denn wir wissen dass die Wirklichkeit irgendwo sein muss. Baudrillard's "death of the real" hat sich nicht eingestellt. Menschen sterben, keine Frage.

Dieses Spannungsfeld zieht und zerrt auch in dieser Installation. Es manifestiert sich in einem ständigen Ringen zwischen unserem Vermögen und Bedürfnis, durch die Bilder hindurch eine Wirklichkeit, eine Geschichte, eine reale Person zu sehen und den Strategien der Bildbearbeitung, die eben genau das verhindern wollen. Die Bilder sind voll Stoerungen und scheinbar instabil, aber wir wissen, dass diese Stoerungen genau kalkulierte aesthetische Eingriffe sind, welche die Authorenschaft nicht unterlaufen sondern betonen.

Was steht am Ende der Bilder? Die Kunstgeschichte der Moderne hat uns bisher zwei Antworten vorgeschlagen: die Abstraktion und die Collage. Während die Abstraktion alle direkten Referenzen zu einer abzubildenden Wirklichkeit  verweigert und eine neue Formensprache des Nicht-Visuellen entwickelt, arbeitet die Collage mit den Trümmern der Bilderwelten. Entweder um eine Wahrheit hinter den trügerischen Abbildern herauszuarbeiten, oder die Äusserlichkeit der Bilder in eine Innerlichkeit zu verwandeln.

Die Arbeit von Schmid und Brogle geht in die letztere Richtung, ohne aber diese Innerlichkeit als eine Individuelle wirklich auszuformulieren. Vielmehr ist genau die Innerlichkeit selbst ein mediales Trümmerfeld.

Einzelstücke liegen herum, ohne zu einem Ganzen zusammen zu finden. Wir sind voll Erinnerungen und Bilder, können aber nicht mehr unterscheiden, welche unsere eignen sind und welche medial vorproduziert wurden.

Nirgendwo wird das deutlicher als beim Sterben. Unsere Gesellschaft hat den Tod mit allem Mitteln aus unserer Lebenswelt verbannt und uns die Illusion gegeben, ihn zu einer unbedeutenden Nebenerscheinung relegiert zu haben. Unsere Kultur kennt schon lange keinen Umgang mehr mit dem Tod. Wir wissen nicht einmal mehr, wie man auf einen Friedhof geht und faszieniert - aber skeptisch, natürlich -  lauschen wir den neuesten Unsterblichkeitsvision  der Wissenschaft: Genteraphie!  Klonen! Cryonics! Das Sterben, das ist nichts für uns.

Gleichzeitig ist unsere mediale Welt uebervoll mit Bildern vom Tod. Nachrichten und Filme liefern sie uns frei ins Haus, Tag für Tag. Aber auch die Kunst, etwa Bill Violas Arbeiten über das Sterben, zeigen uns ständig tote Menschen (erstaunlicherweise scheint die Hemmschwelle gegenüber Tieren höher zu sein). Wir wissen wie Tote aussehen, obwohl die meisten in unseren behüteten Breitengraden kaum je mit einem Leichnam in Berührung gekommen sind.

Unsere Beziehung zum Tod ist mediatisiert wie kaum ein anderer Bereich unsere Persönlichkeit und gleichzeitig wissen wir, dass wir uns nicht auf die Bilder verlassen können. Sie zerfallen vor unseren Augen.

Was steht nun am Ende der Bilder? Die Installation schlägt  zwei Antworten vor. Diejenige der Kunstgeschichte: mehr Bilder. Und diejenige des Lebens: der Tod. Die Installation fordert uns heraus zu entscheiden, welche der beiden Antworten relevant ist. 



*Beth Gibbons: Sand River, 2003