[Dies ist das unkorrigierte Manuskript eines Vortrages,
gehalten am Institut für
Wissenschaft und Kunst, Wien, 26.04.2007. Feedback
willkommen, denn dies ist "work-in-progress".]
Schönen guten Abend,
ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung
bedanken, hier in dieser Reihe „Geistiges
Eigentum, Zur
Kritik an der Aneignung kultureller Produktion“ vortragen
zu
können, auch wenn ich gleich ankündigen muss, dass
ich recht wenig zu geistigen Eigentum im engeren, rechtlichen Sinne
sagen werde. Vielmehr interessieren mich Ansätze, die radikal
brechen mit der individualistischen Konzeption von
Kreativität, welche der legalen Konstruktion von geistigem
Eigentum zugrunde liegt. Dabei möchte ich den Ausflug in die
Theorie komplementieren mit der Frage, warum diese Ideen heute
(wieder) „en vogue“ sind.
Bevor ich mit dem eigentlichen Vortrag beginne, möchte ich die
ersten 6 Minuten eines Video zeigen, in welchem der
Künstler Sven König seine Arbeit „Scrambled
Hacks“ vorstellt, die teilweise am Studienbereich Neue Medien
in Zürich, an dem ich unterrichte, entstanden ist. Ich habe
diese Arbeit ausgewählt, weil sie einerseits aus dem Geist
geboren ist, über den ich in noch sprechen werde, und
andererseits weil sie ihnen einen Eindruck vom Umfeld vermittelt, in
dem einige meiner Tätigkeiten aktuell verortet sind.
Ich denke, das Video hat die Arbeit sehr gut erklärt und ich
werde dem zunächst mal wenig hinzufügen. Die Arbeit,
die Sven König am Anfang recht deutlich
macht, soll keine
Theorie illustrieren, sondern versteht zunächst mal als
Performatives Tool, dessen Wert an der Qualität der
Performance gemessen werden soll. Das Tool selbst ist geprägt
von seiner eigenen Erfahrung als Musiker, der in den 1980er Jahren mit
Musikvideos aufgewachsen ist und der heute die gesamte
Populärmusik der letzten 20 Jahre in frei manipulierbarer,
digitaler Form zur Verfühgung hat.
Was mich heute nicht so sehr interessiert ist die Frage, in wie fern
hier Verletzungen von geistigem Eigentum vorliegen, oder wie diese
gegen die Freiheit der Kunst abzuwägen sei. Zu diesem
Fragekomplex hat ja Eberhard Ortland in dieser Reihe bereits gesprochen.
Ich möchte vielmehr zwei Thesen ins Zentrum meiner
Überlegungen stellen, deren Formulierung mehr als 100 Jahre
auseinander liegen. Die eine stammt von Gabriel Tarde (1843-1904), aus
dessen Buch „Les Lois de l'Imitiation“, das 1890
erschien, das andere von Bruno Latour, aus einem Interview aus dem Jahr
1997. Beide, auf sehr unterschiedlichen Ebenen, entwickeln Konzepte von
Kreativität, Innovation und Wissensproduktion, die die
Position des individuellen Produzenten sehr anders fassen, als wir das
gewohnt sind. Was mich interessiert hier ist nicht so sehr, ob diese
Thesen in einem absoluten Sinn „richtig“ oder
„falsch“ sind, sondern warum sie gerade heute
produktiv werden, oder zumindest attraktiv erscheinen.
Gabriel Tarde ist heute nur Spezialisten bekannt, obwohl er eine der
zentralen Gründungsfiguren der französischen
Soziologie war, inklusive Professur am College der France (1900), die
ihm er aber erst wenige Jahre vor seinem Tod verliehen wurde. Dazu kam,
dass seine Ideen unvereinbar waren mit denen von Emil Durkheim
(1858-1917), der bald zum Doyen der Disziplin aufsteigen sollte. Es war
dessen Schule, die die Geschichte der Disziplin schrieb und Tarde als
unwissenschaftlich – gemäss den eben von Durkheim
etablierten Kriterien – weitgehend in den Hintergrund
verbannte.
Tarde kam erst sehr spät in die Akademie. Davor war er fast 20
Jahre Richter in der französischen Provinz. Dort stellte er
unter anderem fest, dass sich bestimmte Arten des Verbrechens wie
Modeerscheinungen verbreiteten, dass einen horizontalen Transfer von
Ideen und Verhaltensweisen geben müsse. Dies führte
ihn zur Untersuchung der Rolle der Nachahmung in der Konstitution der
Gesellschaft, die er thesenartig auf folgenden Punkt brachte
Was
ist Gesellschaft? Gesellschaft ist Nachahmung!
Was meinte er damit? Zunächst meinte er damit nicht, dass wir
in einer Welt leben, in der sich nichts ändert. Ganz im
Gegenteil. Tarde war kein Traditionalist. Er lebte in einer Zeit des
rasanten gesellschaftlichen Wandels und war sich dessen sehr bewusst.
Sein Argument ging in eine andere Richtung. Für Tarde war
Gesellschaft in erster Linie eine kulturelle Leistung, die durch die
Interaktion von Individuen hervorgebracht wurde. In diesem Ansatz gibt
es keinen Platz für quasi-autonome „sozialen
Tatsachen“, die so zentral für Durkheim waren.
Die gesellschaftserzeugende kulturelle Leistung besteht nicht nur
darin, Ideen und Verhaltensweisen hervorzubringen, sondern mehr noch
diese in einer Gesellschaft zu verbreiten und gegen andere Ideen und
Verhaltensweisen dominant zu machen. Was eine Gesellschaft ausmacht ist
die gemeinsame kulturelle Praxis, die gemeinsame Sprache, Werte,
Verhaltensweisen, Ideen, Umgangsformen und so weiter. Diese Praxis ist
nicht traditionell gegeben, oder biologisch determiniert, sondern
ändert sich mit der Zeit, wobei die Änderungen aber
nur dann relevant werden, wenn sie von der Gesellschaft als ganzes
aufgenommen werden und zu einem neuen Muster, geprägt durch
die Ähnlichkeit individuellen Verhaltens, verdichten.
Zu diesem Zweck unterscheidet Tarde zwischen verschiedenen Typen der
Nachahmung. Da gibt es zunächst die „nachahmende
Nachahmung“, bei der bei der Verhaltensweisen und Verfahren
im wesentlichen unverändert übernommen werden. Dies
ist der Kern dessen, was Gesellschaft konstituiert. Heute nennt man so
etwas „Diffusion“. Wobei der Unterschied ist, dass
Tarde dies als aktiven, konstituierenden Prozess auffasst, und nicht
nur als passive Übernahme.
Daneben gibt es auch die „generative Nachahmung“,
welche dann entsteht, wenn der Prozess der Nachahmung sich nur ungenau
vollzieht, dass heisst, wenn dem Bestehenden, absichtlich oder
unabsichtlich, etwas im Zuge der Reproduktion etwas neues
hinzugefügt wird. Für Tarde ist sind die
erfolgreichsten, das heisst am einfachsten nachzuahmenden, Formen der
„Innovation“ inkrementell, das heisst, sie bauen
immer auch bestehendem auf und verbreiten sich deshalb leicht. Der
inkrementelle, evolutionäre Character von
Veränderungen ist umso stärker, weil sie erst dann
soziologisch relevant werden, wenn sie von der Gesellschaft aufgenommen
werden. Eine revolutionäre Idee, die von niemandem geteilt
wird, ist soziologisch gesehen, irrelevant. Ideengeschichtler sehen das
natürlich etwas anders, aber Tarde interessierte sich
für die Wirkungsmächtigkeit, nicht den Ursprung von
Veränderungen. Und da stellte er fest, dass das Neue dann
soziologisch relevant wird, wenn es nicht mehr neu ist, sondern breit
nachgeahmt wird. In diesem Sinne ist auch das Neue sehr eng mit dem Akt
der Nachahmung verbunden, sowohl im Hinblick auf seinen inkrementellen
Charakter als auch in der Art und Weise, wie es sich in der
Gesellschaft verbreitet. Tarde ist zu sehr Soziologe, als dass er sich
diesen Verbreitungsprozess als konfliktfrei entwirft. Er sieht vielmehr
das Individuum, als auch die Gesellschaft selbst, als einen
Reprokutionsappart in welchen durchaus konkurrierende Programme um die
Vorherrschaft, das heisst um die grösstmögliche
Verbreitung, ringen. Dieser Prozess wird vorangetrieben von sozialen
Gruppen, deren Schicksal an der Reproduktion bestimmter Ideen und
Verhaltensweisen geknüpft ist.
Tarde erlebt heute eine kleine Renaissance. Seine Werke werden wieder
aufgelegt und sein Schlüsselwerk zur Nachahmung liegt nach
knapp 110 Jahren nun auch erstmals in Deutsch vor. Tarde wird heute aus
vielen Perspektiven neu rezipiert. Besonders zwei interessieren mich
hier. Erstens wird er als Vorläufer der Memetic reklamiert.
Von jener Wissenschaft also, die versucht, die Verbreitung von Ideen
als einen selektiven evolutionären Prozess zu analysieren.
Tardes Konzept der generativen Nachahmung taucht als Variation auf, das
der nachahmenden Nachahmung als Reproduktion. Ähnlich wie
Tarde stellt auch die Memetic individuelle Interaktionen ins Zentrum
ihrer Überlegungen, bleibt aber soziologisch gesehen weit
hinter Tarde zurück, weil die diesen Reproduktionsprozess als
weitgehend autonom oder unbewusst konzipiert. Nicht zufällig
ist eines der Lieblingsbeispiele der Memetiker der
„Ohrwurm“, das Lied, das man einmal gehört
hat und dann nicht mehr aus dem Kopf kriegt, auch wenn es einem
überhaupt nicht gefällt.
Die zweite Perspektive, aus der Tarde rezipiert wird, sind linke
Positionen in den Debatten um kreative Arbeit. Zentral ist hier das
aktuelle Werk von Maurizzio Lazzerato und die Zeitschrift Multitude,
die 2001 eine ganze Ausgabe Tarde widmete. Leider ist hier erst wenig
aus dem französischen übersetzt. Was für
Lazzarato Tarde so interessant macht, ist, dass er kreative Arbeit
entindividualisiert, nicht in dem Sinne, dass es keine kreativen Akte
mehr gäbe, sondern in dem Sinne, dass es keinen ontologischen
Unterschied zwischen Innovation und Diffusion gibt, sondern dass das
Neue eine kollektive Produktion der sozialen Gemeinschaft darstellt,
die wie bereits erwähnt, durchaus konflikthaft sein kann.
Aber, und das ist der springende Punkt, es ist das soziale, das
kollektive, nicht das individuelle, das den Wert eines materiellen oder
symbolischen kulturellen Artefakts produziert. Durch die Betonung der
Bedeutung der Nachahmung, der Diffusion, der sozialen Reproduktion wird
die Legitimation der individualisierenden Konzeption von
Kreativität, die den Aneignungstragtegien des geistigen
Eigentum zu Grunde liegen, in Frage gestellt. Anstelle des
individuellen Schöpfers wird, in Anlehnung an Marx, der
„general intellect“, oder die
Öffentlichkeit und der freie, aber nicht zufällige
Fluss von Ideen, als Locus der Kreativität bestimmt.
Soweit zu Tarde und der Rolle der Öffentlichkeit, des
kollektiven, oder vielleicht präziser, des Konnektiven, in der
kulturellen Produktion.
Die zweite These, die ich angekündigt habe, stammt von Bruno
Latour, übrigens auch ein begeisterter (Wieder)entdecker von
Tarde. Mit Latour möchte ich aber das Register wechseln, von
soziologischen hin zu epistemologischen Fragen der Produktion
symbolischer Artefakte, wissenschaftlicher Erkenntnis, um genau zu
sein. Das scheint mir insofern relevant zu sein, als dass die
Wissenschaft, ähnlich wie die Kunst, als Produzent neuer
symbolischen Gütern verstanden werden kann. Dem entgegnet
Latour aber:
There
is no information, only transformation.
Was meint er damit? Eine der zentralen Fragen, denen Latour seit nun
mehr als zwei Jahrzehnten auf der Spur ist, geht darum, wie wissen um
die Welt, und damit die Welt selbst, zustande kommt. Diese
epistemologische Frage behandelt er als Anthropologe der
Wissenschaften, das heisst, er untersucht die Praxis, die faktisches
Wissen hervorbringt. Dabei geht es Latour in keiner weise und die
soziale Dekonstruktion der Wissenschaften, sondern darum zu fassen, wie
naturwissenschaftliche Referenzketten zu Stande kommen. Wie entsteht
der Zusammenhang zwischen einen Phänomen „in der
Welt“ und einer wissenschaftlichen Tatsache auf dem Papier.
In anderen Worten, er interessiert sich für die
vielfältigen Prozesse der Übersetzung und
Verbindungen zwischen „Welt“ und
„Wort“.
Seit Descartes geht die moderne Philosophie von einer ontologischen
Differenz zwischen den dem Wort und der Welt aus, oder anders
formuliert, zwischen der Welt im Kopf und der Welt ausserhalb des Kopfs.
Latour stellt das in dieser Graphik dar:
Quelle: Pandora's Hope, p.69
Die Empiristen die Optimisten dieser Konstruktion. Sie glauben, dass
mittels geeigneter Methoden, die Welt verlässlich in Worte
überführt werden kann, und gleichzeitig sie darauf
bestehen, dass diese beiden Ebenen sich dennoch nicht
überlappen, dass heisst, dass die Welt durch die Worte nicht
verändert wird. Die Welt kann „entdeckt“
werden wie sie wirklich ist, unbeeinflusst vom Akt der Entdeckung.
Diese Entdeckungen bringen neue Informationen in die Welt der Worte.
Die Postmodernisten oder Dekonstruktivsten sind die Pessimisten dieser
Konstruktion, als dass sie fürchten, dass dieser Graben nie
überwunden werden kann, dass die Berührungspunkte
zwischen Welt und Wort minimal oder nicht existent sind, und dass wir
deshalb mit letztendlich arbiträren Konstruktionen zu tun
haben, die alles mögliche in der Welt der Worte widerspiegeln,
aber nicht die Welt der Dinge.
Latour setzt dieser grossen Dichotomie die Praxis der vielen kleinen
Schritte entgegen. Anstatt eines grossen Sprungs über den
ontologischen Graben, folgt er den vielen kleinen
Übersetzungen, die aus einem komplexen, situierten,
individuellen Phänomen einen allgemeine, transportable
wissenschaftliche Tatsache machen. Zentral für die
Gültigkeit der dabei entstehenden Referenzketten ist, dass
eigentlich nie etwas neues hinzugefügt wird, sondern dass das
Neue aus der transformation des Alten destilliert wird, und zwar in
seiner solchen Art und Weise, dass die Referenzketten
rückverfolgbar sind.
Er stellt dies in dieser Graphik dar.
Pandora's Hope, p.70
Was er damit meint, dass der Weg von der Welt zum Wort in vielen
Schritten vollzogen wird, in denen jedes einzelne Zwischenresulat
selbst ein Welt-Wort (matter-form) Hybrid darstellt und nur am Ende
dieser Ketten,
wenn überhaupt, das „reine Wort“ oder die
„reine Welt“ zu finden ist.
Hier ist ein Beispiel eines solchen hybriden Zwischenprodukt:
Wir sehen hier Bodenproben aus einer Ausgrabung im Jahre 2001, die in
einem Büro der Universität Indiana ihrer Auswertung
harren. Latour benutzt ein sehr ähnliches Beispiel, leider mit
einem schlecht zu reproduzierenden Photo, um darauf hinzuweisen, dass
solche Samples sowohl der Welt der Dinge zuzurechnen sind –
es sind ja physische Objekte – als auch der Welt der Worte,
denn sie sind ja aus ihrer natürlichen Umgebung entfernt und
bereits in eine theoretische Ordnung überführt, in
dem sie in Schalen abgefüllt, nummeriert und katalogisiert
wurden.
Leicht anders formuliert, und um langsam den Bogen wieder
zurück um eigentlichen Thema dieses Vortrags zu schlagen,
diese Samples, die hier so schön gereiht auf dem Boden liegen,
sind sowohl der Output transformatorischer Tätigkeiten (die
Ausgrabung hat zu diesem Zeitpunkt bereits stattgefunden) also auch
Input für weitere transformatorische Leistungen, die dann
zunächst diese Form annehmen:
um schliesslich in einem weltweit zirkulierendem wissenschaftlichen
Paper Anstoss zu weiterer archäologischer Feldforschung zu
geben.
Den Punkt, den ich mit diesem Ausflug in die „Science
Studies“ machen will ist folgender. In dieser Perspektive
gibt es keinen ontologischen Unterschied zwischen Welt und Wort,
zwischen Input und Output wissenschaftlicher Produktion. Vielmehr kann,
ja muss, der Output sofort wieder zum Input des nächsten
Schrittes in der endlosen Kette von Transformation liegen. In diesem
Sinne wird Information immer nur prozessiert und aber nie neu
geschaffen. In der Wissenschaft ist das ganz besonders wichtig, dass
nirgends Information neu hinzukommt, sondern dass immer nachgewiesen
werden kann, wie und woher sie gewonnen wurde.
Wenn man nun die beiden Thesen von Tarde zur Nachahmung und von Latour
zur Transformation zusammenfügt, dann beginnt sich ein
Verständnis von kultureller Produktion zu klären, das
ganz wenig mit individualistischen Konzepten von Kreativität
und den darauf aufbauenden normativen Anspruch der Autoren auf
Kontrolle des Werkes zu tun hat. Laut Tarde gibt es keinen
fundamentalen Unterschied zwischen Innovation und Diffusion, beides
sind aktive, konstituierende Tätigkeiten, die in der Praxis
kaum von einander zu trennen sind. Laut Latour gibt es keinen
ontologischen Unterschied zwischen dem Rohmaterial und dem Endprodukt
der Erkenntnis. Die Unterscheidung zwischen Input und Output hat einzig
und alleine damit zu tun, auf welche Stelle in der Referenzkette wir
unsere Aufmerksamkeit fokussieren.
Ich glaube, beide dieser Punkte sind in der gezeigten Arbeit von Sven
König. Die Dokumentation der Arbeit, die ihre
Diffussionsfähigkeit verstärken soll, ist selbst eine
künstlerische Arbeit und sie wird ganz bewusst auf in
Kanäle eingespeist, die auf Diffusion hin optimiert sind, in
diesem Fall die Video-Sharing Seite Youtube. Der Aspekt der
Transformation, von stetem Wechsel zwischen Input und Output ist in der
Arbeit nicht nur darin gegeben, dass „fertige“
Musikvideos in ihre Samples zerlegt werden, sondern auch dadurch, dass
das ganze ein performatives Tools darstellt, in dem der Performer
über vielfältige Feedback Mechanismen, sie waren im
Video ja zu sehen, auf seine eigene Performance reagieren kann.
Warum heute?
Soweit zur Ideengeschichte. Die Frage, die sich nun aber stellt, ist
folgende. Warum erscheinen uns Ansätze, wie sie mit Tarde und
Latour exemplarisch vorgestellt wurden, auf grosses Interesse stossen,
während traditionelle Konzeptionen der individuellen
Autorenschaft eigentlich nur noch von denen Vertreten werden, die in
direktes ökonomisches Eigeninteresse damit
verknüpfen. Und auch diese Kreise versuchen, das
autorenzentrierte Urheberrecht zunehmend in ein produzentenzentriertes
umzuwandeln.
Es scheint mir, dass Tarde und Latour heute breit rezipiert werden,
weil ihre Thesen sehr gut einer allgemeinen Alltagserfahrung
entsprechen. Tarde bietet vor allem für zwei Erfahrungen
interessante theoretische Ansätze. Wir leben in einer Zeit, in
der mehr und mehr unserer sozialen Umwelt brüchig ist,
beziehungsweise von dem bestimmt wird was Soziologen „weak
ties“ nennen. Das heisst, je mehr wir uns aus stabilen
institutionellen Zusammenhängen lösen, je mehr wir
uns, in unserer Arbeit, in unserer Freizeit, sofern man dies noch
trennen kann, oder allgemeiner, in unserer Sozialität in
fluide, dynamische Netzwerke begeben, desto grösser und
bewusster wird der Anteil unsere Arbeit, der darauf aufgewendet wird,
überhaupt den sozialen Kontext zu schaffen, in dem wir selbst
aktiv werden können. Mit anderen Worten, wir sind immer mehr
damit beschäftigt, nicht nur unsere individuelle Arbeit zu
produzieren, sondern auch den sozialen Kontext in dem diese Arbeit
überhaupt erscheinen kann und das dem sich weitere
Möglichkeiten der individuellen Arbeit ergeben.
„Sharing“ und „Access“ sind zu
Schlüsselbegriffen der vernetzen Kultur geworden. Dies nicht
so sehr aus individueller Grosszügigkeit, sondern weil es sich
herausstellt, dass dies Grundmechanismen sind, um Sozialität,
ganz im Sinne Tardes, zu produzieren. Ohne funktionierende
Möglichkeiten der Nachahmung, verstanden als aktiven Prozess,
können wir weder individuell produzieren, noch kann die
Produktion eine soziale Wertigkeit erhalten.
Die zweite Erfahrung, die Tarde nach Jahrzehnten des Desinteresses
plötzlich wieder relevant erscheinen lässt, ist dass
wir immer stärker die internen Widersprüchen der
individuellen Monopolisierung kultureller Produktion zu spüren
bekommen. Das sind etwa die Naturwissenschaften, die nicht nur von den
steigenden Preisen für wissenschaftliche Publikationen
behindert werden, sondern auch mit immer mehr Schwierigkeiten zu
kämpfen haben, weil Informationen gar nicht mehr
zugänglich sind, oder Verfahren patentiert werden, und die
Rechteabklärung so komplex, und teuer ist, dass sie
für Forscher ohne spezialisierten administrativen Stab kaum
mehr zu leisten ist. Da ist aber auch die Kreativindustrie, die
einerseits die Vernetzung und Kommunikation einfordert, gleichzeitig
bemüht ist, diese Kommunikationsleitungen – die
notwendigerweise kollektiv ist – zu privatisieren. Dass die
Musikindustrie massenhaft ihre eigenen Kunden, die den Vertrieb in die
eigene Hand nehmen, und ihre eigenen Produzenten, die Samplerechte
nicht geklärt haben, verklagt, ist symptomatisch für
diese internen Widersprüche. Die zunehmende Radikalisierung
der Monopolisierung geistigen Eigentums, man denke nur an die gestern
(25.04) im EU Parlament verabschiedete „IPR Enforcement
Directive“ wird diese Widersprüche zwischen
kollektiver Produktion und individueller Aneignung noch weiter
verschärfen.
Bruno Latours flache Ontologie der Wissenschaften lässt sich
sehr gut auf die digitale Kulturproduktion umlegen. Der entscheidene
Punkt ist, dass die Frage, ob eine kulturelles Gut Rohmaterial oder
Endprodukt ist, nicht mehr im Hinblick auf das Gut selbst entschieden
werden kann. Im analogen Kontext ist das nicht der Fall. Die Farbe auf
einem Gemälde kommt nie mehr zurück in die Tube. Im
digitalen Kontext ist die Unterscheidung zwischen Input und Output
relational und bestimmt vom Kontext der Reproduktion. Ob ein Musikfile
in einem Player oder in einem Editor geöffnet wird, ist
technologisch gesehen kein Unterschied, sondern einzig und alleine eine
Entscheidung des Nutzers. Alle Versuche, hier Mittels technischer
Massnahmen, dem sogenannten Digital Rights Management, wieder einen
ontologischen Unterschied zu simulieren sind daran gescheitert, dass
Ontologien eben nicht künstlich geschaffen werden
können.
Für Künstler ist dies keine Neuigkeit und auch nicht
an digitale Technologien gebunden. Fast alle Schriftsteller sind auch
begeisterte Leser und fast alle Maler besuchen regelmässig
Ausstellungen andere Maler. Da sind wir wieder bei Tarde. Was die
Digitalisierung hier verändert ist, dass den
Transformationscharacter kultureller Produktion explizit und zu einem
Massenphänomen macht. Und das ist nicht wenig, sondern bringt
das ganze Gefüge ins Wanken.
Die Folge dieser Überlegungen ist nicht, wie vielfach
angekündigt und befürchtet, der Tod der
Autorenschaft. Das Foucault'sche „Murmeln der
Diskurse“ scheint mir hier nicht in die richtige Richtung zu
weisen. Mehr denn je ist es möglich, jede einzelne
Äusserung einem identifizierbaren Autoren zuzuordnen, gerade
auch in kollektiven Prozessen. Man denke hier nur an die sehr
detaillierten Versionen/Autoren Listungen in Wikipedia.
Was notwendig ist, ist die Autorenschaft oder die kreativen
Fähigkeiten, so neu zu definieren, dass einerseits
individuelle Leistungen anerkannt werden können, ohne daraus
gleich eine monopolistische Kontrolle dieser Leistungen abzuleiten. Es
geht also, in der langen Perspektive nicht um den unfruchtbaren
Gegensatz zwischen autonomen Individuum und homogenen Kollektiv,
sondern darum, Individualität und Kreativität in
einem vernetzten Kontext neu zu entwerfen, oder vielleicht einfach nur
wiederzuentdecken.