[Dies ist das unkorrigierte Manuskript eines Vortrages, gehalten am Institut für Wissenschaft und Kunst, Wien, 26.04.2007. Feedback willkommen, denn dies ist "work-in-progress".]

Schönen guten Abend,

ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung bedanken, hier in dieser Reihe „Geistiges Eigentum, Zur Kritik an der Aneignung kultureller Produktion“ vortragen zu können, auch wenn ich gleich ankündigen muss, dass ich recht wenig zu geistigen Eigentum im engeren, rechtlichen Sinne sagen werde. Vielmehr interessieren mich Ansätze, die radikal brechen mit der individualistischen Konzeption von Kreativität, welche der legalen Konstruktion von geistigem Eigentum zugrunde liegt. Dabei möchte ich den Ausflug in die Theorie komplementieren mit der Frage, warum diese Ideen heute  (wieder) „en vogue“ sind.

Bevor ich mit dem eigentlichen Vortrag beginne, möchte ich die ersten 6 Minuten eines Video zeigen, in welchem der Künstler Sven König seine Arbeit „Scrambled Hacks“ vorstellt, die teilweise am Studienbereich Neue Medien in Zürich, an dem ich unterrichte, entstanden ist. Ich habe diese Arbeit ausgewählt, weil sie einerseits aus dem Geist geboren ist, über den ich in noch sprechen werde, und andererseits weil sie ihnen einen Eindruck vom Umfeld vermittelt, in dem einige meiner Tätigkeiten aktuell verortet sind.



Ich denke, das Video hat die Arbeit sehr gut erklärt und ich werde dem zunächst mal wenig hinzufügen. Die Arbeit, die Sven König am Anfang recht deutlich macht, soll keine Theorie illustrieren, sondern versteht zunächst mal als Performatives Tool, dessen Wert an der Qualität der Performance gemessen werden soll. Das Tool selbst ist geprägt von seiner eigenen Erfahrung als Musiker, der in den 1980er Jahren mit Musikvideos aufgewachsen ist und der heute die gesamte Populärmusik der letzten 20 Jahre in frei manipulierbarer, digitaler Form zur Verfühgung hat.

Was mich heute nicht so sehr interessiert ist die Frage, in wie fern hier Verletzungen von geistigem Eigentum vorliegen, oder wie diese gegen die Freiheit der Kunst abzuwägen sei. Zu diesem Fragekomplex hat ja Eberhard Ortland in dieser Reihe bereits gesprochen.

Ich möchte vielmehr zwei Thesen ins Zentrum meiner Überlegungen stellen, deren Formulierung mehr als 100 Jahre auseinander liegen. Die eine stammt von Gabriel Tarde (1843-1904), aus dessen Buch „Les Lois de l'Imitiation“, das 1890 erschien, das andere von Bruno Latour, aus einem Interview aus dem Jahr 1997. Beide, auf sehr unterschiedlichen Ebenen, entwickeln Konzepte von Kreativität, Innovation und Wissensproduktion, die die Position des individuellen Produzenten sehr anders fassen, als wir das gewohnt sind. Was mich interessiert hier ist nicht so sehr, ob diese Thesen in einem absoluten Sinn „richtig“ oder „falsch“ sind, sondern warum sie gerade heute produktiv werden, oder zumindest attraktiv erscheinen.

Gabriel Tarde ist heute nur Spezialisten bekannt, obwohl er eine der zentralen Gründungsfiguren der französischen Soziologie war, inklusive Professur am College der France (1900), die ihm er aber erst wenige Jahre vor seinem Tod verliehen wurde. Dazu kam, dass seine Ideen unvereinbar waren mit denen von Emil Durkheim (1858-1917), der bald zum Doyen der Disziplin aufsteigen sollte. Es war dessen Schule, die die Geschichte der Disziplin schrieb und Tarde als unwissenschaftlich – gemäss den eben von Durkheim etablierten Kriterien – weitgehend in den Hintergrund verbannte.

Tarde kam erst sehr spät in die Akademie. Davor war er fast 20 Jahre Richter in der französischen Provinz. Dort stellte er unter anderem fest, dass sich bestimmte Arten des Verbrechens wie Modeerscheinungen verbreiteten, dass einen horizontalen Transfer von Ideen und Verhaltensweisen geben müsse. Dies führte ihn zur Untersuchung der Rolle der Nachahmung in der Konstitution der Gesellschaft, die er thesenartig auf folgenden Punkt brachte

Was ist Gesellschaft? Gesellschaft ist Nachahmung!


Was meinte er damit? Zunächst meinte er damit nicht, dass wir in einer Welt leben, in der sich nichts ändert. Ganz im Gegenteil. Tarde war kein Traditionalist. Er lebte in einer Zeit des rasanten gesellschaftlichen Wandels und war sich dessen sehr bewusst. Sein Argument ging in eine andere Richtung. Für Tarde war Gesellschaft in erster Linie eine kulturelle Leistung, die durch die Interaktion von Individuen hervorgebracht wurde. In diesem Ansatz gibt es keinen Platz für quasi-autonome „sozialen Tatsachen“, die so zentral für Durkheim waren.

Die gesellschaftserzeugende kulturelle Leistung besteht nicht nur darin, Ideen und Verhaltensweisen hervorzubringen, sondern mehr noch diese in einer Gesellschaft zu verbreiten und gegen andere Ideen und Verhaltensweisen dominant zu machen. Was eine Gesellschaft ausmacht ist die gemeinsame kulturelle Praxis, die gemeinsame Sprache, Werte, Verhaltensweisen, Ideen, Umgangsformen und so weiter. Diese Praxis ist nicht traditionell gegeben, oder biologisch determiniert, sondern ändert sich mit der Zeit, wobei die Änderungen aber nur dann relevant werden, wenn sie von der Gesellschaft als ganzes aufgenommen werden und zu einem neuen Muster, geprägt durch die Ähnlichkeit individuellen Verhaltens, verdichten.

Zu diesem Zweck unterscheidet Tarde zwischen verschiedenen Typen der Nachahmung. Da gibt es zunächst die „nachahmende Nachahmung“, bei der bei der Verhaltensweisen und Verfahren im wesentlichen unverändert übernommen werden. Dies ist der Kern dessen, was Gesellschaft konstituiert. Heute nennt man so etwas „Diffusion“. Wobei der Unterschied ist, dass Tarde dies als aktiven, konstituierenden Prozess auffasst, und nicht nur als passive Übernahme.

Daneben gibt es auch die „generative Nachahmung“, welche dann entsteht, wenn der Prozess der Nachahmung sich nur ungenau vollzieht, dass heisst, wenn dem Bestehenden, absichtlich oder unabsichtlich, etwas im Zuge der Reproduktion etwas neues hinzugefügt wird. Für Tarde ist sind die erfolgreichsten, das heisst am einfachsten nachzuahmenden, Formen der „Innovation“ inkrementell, das heisst, sie bauen immer auch bestehendem auf und verbreiten sich deshalb leicht. Der inkrementelle, evolutionäre Character von Veränderungen ist umso stärker, weil sie erst dann soziologisch relevant werden, wenn sie von der Gesellschaft aufgenommen werden. Eine revolutionäre Idee, die von niemandem geteilt wird, ist soziologisch gesehen, irrelevant. Ideengeschichtler sehen das natürlich etwas anders, aber Tarde interessierte sich für die Wirkungsmächtigkeit, nicht den Ursprung von Veränderungen. Und da stellte er fest, dass das Neue dann soziologisch relevant wird, wenn es nicht mehr neu ist, sondern breit nachgeahmt wird. In diesem Sinne ist auch das Neue sehr eng mit dem Akt der Nachahmung verbunden, sowohl im Hinblick auf seinen inkrementellen Charakter als auch in der Art und Weise, wie es sich in der Gesellschaft verbreitet. Tarde ist zu sehr Soziologe, als dass er sich diesen Verbreitungsprozess als konfliktfrei entwirft. Er sieht vielmehr das Individuum, als auch die Gesellschaft selbst, als einen Reprokutionsappart in welchen durchaus konkurrierende Programme um die Vorherrschaft, das heisst um die grösstmögliche Verbreitung, ringen. Dieser Prozess wird vorangetrieben von sozialen Gruppen, deren Schicksal an der Reproduktion bestimmter Ideen und Verhaltensweisen geknüpft ist.

Tarde erlebt heute eine kleine Renaissance. Seine Werke werden wieder aufgelegt und sein Schlüsselwerk zur Nachahmung liegt nach knapp 110 Jahren nun auch erstmals in Deutsch vor. Tarde wird heute aus vielen Perspektiven neu rezipiert. Besonders zwei interessieren mich hier. Erstens wird er als Vorläufer der Memetic reklamiert. Von jener Wissenschaft also, die versucht, die Verbreitung von Ideen als einen selektiven evolutionären Prozess zu analysieren. Tardes Konzept der generativen Nachahmung taucht als Variation auf, das der nachahmenden Nachahmung als Reproduktion. Ähnlich wie Tarde stellt auch die Memetic individuelle Interaktionen ins Zentrum ihrer Überlegungen, bleibt aber soziologisch gesehen weit hinter Tarde zurück, weil die diesen Reproduktionsprozess als weitgehend autonom oder unbewusst konzipiert. Nicht zufällig ist eines der Lieblingsbeispiele der Memetiker der „Ohrwurm“, das Lied, das man einmal gehört hat und dann nicht mehr aus dem Kopf kriegt, auch wenn es einem überhaupt nicht gefällt.

Die zweite Perspektive, aus der Tarde rezipiert wird, sind linke Positionen in den Debatten um kreative Arbeit. Zentral ist hier das aktuelle Werk von Maurizzio Lazzerato und die Zeitschrift Multitude, die 2001 eine ganze Ausgabe Tarde widmete. Leider ist hier erst wenig aus dem französischen übersetzt. Was für Lazzarato Tarde so interessant macht, ist, dass er kreative Arbeit entindividualisiert, nicht in dem Sinne, dass es keine kreativen Akte mehr gäbe, sondern in dem Sinne, dass es keinen ontologischen Unterschied zwischen Innovation und Diffusion gibt, sondern dass das Neue eine kollektive Produktion der sozialen Gemeinschaft darstellt, die wie bereits erwähnt, durchaus konflikthaft sein kann. Aber, und das ist der springende Punkt, es ist das soziale, das kollektive, nicht das individuelle, das den Wert eines materiellen oder symbolischen kulturellen Artefakts produziert. Durch die Betonung der Bedeutung der Nachahmung, der Diffusion, der sozialen Reproduktion wird die Legitimation der individualisierenden Konzeption von Kreativität, die den Aneignungstragtegien des geistigen Eigentum zu Grunde liegen, in Frage gestellt. Anstelle des individuellen Schöpfers wird, in Anlehnung an Marx, der „general intellect“, oder die Öffentlichkeit und der freie, aber nicht zufällige Fluss von Ideen, als Locus der Kreativität bestimmt.

Soweit zu Tarde und der Rolle der Öffentlichkeit, des kollektiven, oder vielleicht präziser, des Konnektiven, in der kulturellen Produktion.

Die zweite These, die ich angekündigt habe, stammt von Bruno Latour, übrigens auch ein begeisterter (Wieder)entdecker von Tarde. Mit Latour möchte ich aber das Register wechseln, von soziologischen hin zu epistemologischen Fragen der Produktion symbolischer Artefakte, wissenschaftlicher Erkenntnis, um genau zu sein. Das scheint mir insofern relevant zu sein, als dass die Wissenschaft, ähnlich wie die Kunst, als Produzent neuer symbolischen Gütern verstanden werden kann. Dem entgegnet Latour aber:

There is no information, only transformation.

Was meint er damit? Eine der zentralen Fragen, denen Latour seit nun mehr als zwei Jahrzehnten auf der Spur ist, geht darum, wie wissen um die Welt, und damit die Welt selbst, zustande kommt. Diese epistemologische Frage behandelt er als Anthropologe der Wissenschaften, das heisst, er untersucht die Praxis, die faktisches Wissen hervorbringt. Dabei geht es Latour in keiner weise und die soziale Dekonstruktion der Wissenschaften, sondern darum zu fassen, wie naturwissenschaftliche Referenzketten zu Stande kommen. Wie entsteht der Zusammenhang zwischen einen Phänomen „in der Welt“ und einer wissenschaftlichen Tatsache auf dem Papier. In anderen Worten, er interessiert sich für die vielfältigen Prozesse der Übersetzung und Verbindungen zwischen „Welt“ und „Wort“.

Seit Descartes geht die moderne Philosophie von einer ontologischen Differenz zwischen den dem Wort und der Welt aus, oder anders formuliert, zwischen der Welt im Kopf und der Welt ausserhalb des Kopfs.

Latour stellt das in dieser Graphik dar:




Quelle: Pandora's Hope, p.69



Die Empiristen die Optimisten dieser Konstruktion. Sie glauben, dass mittels geeigneter Methoden, die Welt verlässlich in Worte überführt werden kann, und gleichzeitig sie darauf bestehen, dass diese beiden Ebenen sich dennoch nicht überlappen, dass heisst, dass die Welt durch die Worte nicht verändert wird. Die Welt kann „entdeckt“ werden wie sie wirklich ist, unbeeinflusst vom Akt der Entdeckung. Diese Entdeckungen bringen neue Informationen in die Welt der Worte. Die Postmodernisten oder Dekonstruktivsten sind die Pessimisten dieser Konstruktion, als dass sie fürchten, dass dieser Graben nie überwunden werden kann, dass die Berührungspunkte zwischen Welt und Wort minimal oder nicht existent sind, und dass wir deshalb mit letztendlich arbiträren Konstruktionen zu tun haben, die alles mögliche in der Welt der Worte widerspiegeln, aber nicht die Welt der Dinge.


Latour setzt dieser grossen Dichotomie die Praxis der vielen kleinen Schritte entgegen. Anstatt eines grossen Sprungs über den ontologischen Graben, folgt er den vielen kleinen Übersetzungen, die aus einem komplexen, situierten, individuellen Phänomen einen allgemeine, transportable wissenschaftliche Tatsache machen. Zentral für die Gültigkeit der dabei entstehenden Referenzketten ist, dass eigentlich nie etwas neues hinzugefügt wird, sondern dass das Neue aus der transformation des Alten destilliert wird, und zwar in seiner solchen Art und Weise, dass die Referenzketten rückverfolgbar sind.


Er stellt dies in dieser Graphik dar.


Pandora's Hope, p.70


Was er damit meint, dass der Weg von der Welt zum Wort in vielen Schritten vollzogen wird, in denen jedes einzelne Zwischenresulat selbst ein Welt-Wort (matter-form) Hybrid darstellt und nur am Ende dieser Ketten, wenn überhaupt, das „reine Wort“ oder die „reine Welt“ zu finden ist.

Hier ist ein Beispiel eines solchen hybriden Zwischenprodukt:



Source: http://www.indiana.edu/~archaeo/bone_bank/archive/soildry_web.jpg

Wir sehen hier Bodenproben aus einer Ausgrabung im Jahre 2001, die in einem Büro der Universität Indiana ihrer Auswertung harren. Latour benutzt ein sehr ähnliches Beispiel, leider mit einem schlecht zu reproduzierenden Photo, um darauf hinzuweisen, dass solche Samples sowohl der Welt der Dinge zuzurechnen sind – es sind ja physische Objekte – als auch der Welt der Worte, denn sie sind ja aus ihrer natürlichen Umgebung entfernt und bereits in eine theoretische Ordnung überführt, in dem sie in Schalen abgefüllt, nummeriert und katalogisiert wurden.

Leicht anders formuliert, und um langsam den Bogen wieder zurück um eigentlichen Thema dieses Vortrags zu schlagen, diese Samples, die hier so schön gereiht auf dem Boden liegen, sind sowohl der Output transformatorischer Tätigkeiten (die Ausgrabung hat zu diesem Zeitpunkt bereits stattgefunden) also auch Input für weitere transformatorische Leistungen, die dann zunächst diese Form annehmen:



Source: http://www.indiana.edu/~archaeo/bone_bank/archive/cultural_web.jpg


dann diese:


Source: http://www.indiana.edu/~archaeo/bone_bank/archive/core-graph.gif


um schliesslich in einem weltweit zirkulierendem wissenschaftlichen Paper Anstoss zu weiterer archäologischer Feldforschung zu geben.


Den Punkt, den ich mit diesem Ausflug in die „Science Studies“ machen will ist folgender. In dieser Perspektive gibt es keinen ontologischen Unterschied zwischen Welt und Wort, zwischen Input und Output wissenschaftlicher Produktion. Vielmehr kann, ja muss, der Output sofort wieder zum Input des nächsten Schrittes in der endlosen Kette von Transformation liegen. In diesem Sinne wird Information immer nur prozessiert und aber nie neu geschaffen. In der Wissenschaft ist das ganz besonders wichtig, dass nirgends Information neu hinzukommt, sondern dass immer nachgewiesen werden kann, wie und woher sie gewonnen wurde.

Wenn man nun die beiden Thesen von Tarde zur Nachahmung und von Latour zur Transformation zusammenfügt, dann beginnt sich ein Verständnis von kultureller Produktion zu klären, das ganz wenig mit individualistischen Konzepten von Kreativität und den darauf aufbauenden normativen Anspruch der Autoren auf Kontrolle des Werkes zu tun hat. Laut Tarde gibt es keinen fundamentalen Unterschied zwischen Innovation und Diffusion, beides sind aktive, konstituierende Tätigkeiten, die in der Praxis kaum von einander zu trennen sind. Laut Latour gibt es keinen ontologischen Unterschied zwischen dem Rohmaterial und dem Endprodukt der Erkenntnis. Die Unterscheidung zwischen Input und Output hat einzig und alleine damit zu tun, auf welche Stelle in der Referenzkette wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren.

Ich glaube, beide dieser Punkte sind in der gezeigten Arbeit von Sven König. Die Dokumentation der Arbeit, die ihre Diffussionsfähigkeit verstärken soll, ist selbst eine künstlerische Arbeit und sie wird ganz bewusst auf in Kanäle eingespeist, die auf Diffusion hin optimiert sind, in diesem Fall die Video-Sharing Seite Youtube. Der Aspekt der Transformation, von stetem Wechsel zwischen Input und Output ist in der Arbeit nicht nur darin gegeben, dass „fertige“ Musikvideos in ihre Samples zerlegt werden, sondern auch dadurch, dass das ganze ein performatives Tools darstellt, in dem der Performer über vielfältige Feedback Mechanismen, sie waren im Video ja zu sehen, auf seine eigene Performance reagieren kann.


Warum heute?

Soweit zur Ideengeschichte. Die Frage, die sich nun aber stellt, ist folgende. Warum erscheinen uns Ansätze, wie sie mit Tarde und Latour exemplarisch vorgestellt wurden, auf grosses Interesse stossen, während traditionelle Konzeptionen der individuellen Autorenschaft eigentlich nur noch von denen Vertreten werden, die in direktes ökonomisches Eigeninteresse damit verknüpfen. Und auch diese Kreise versuchen, das autorenzentrierte Urheberrecht zunehmend in ein produzentenzentriertes umzuwandeln.

Es scheint mir, dass Tarde und Latour heute breit rezipiert werden, weil ihre Thesen sehr gut einer allgemeinen Alltagserfahrung entsprechen. Tarde bietet vor allem für zwei Erfahrungen interessante theoretische Ansätze. Wir leben in einer Zeit, in der mehr und mehr unserer sozialen Umwelt brüchig ist, beziehungsweise von dem bestimmt wird was Soziologen „weak ties“ nennen. Das heisst, je mehr wir uns aus stabilen institutionellen Zusammenhängen lösen, je mehr wir uns, in unserer Arbeit, in unserer Freizeit, sofern man dies noch trennen kann, oder allgemeiner, in unserer Sozialität in fluide, dynamische Netzwerke begeben, desto grösser und bewusster wird der Anteil unsere Arbeit, der darauf aufgewendet wird, überhaupt den sozialen Kontext zu schaffen, in dem wir selbst aktiv werden können. Mit anderen Worten, wir sind immer mehr damit beschäftigt, nicht nur unsere individuelle Arbeit zu produzieren, sondern auch den sozialen Kontext in dem diese Arbeit überhaupt erscheinen kann und das dem sich weitere Möglichkeiten der individuellen Arbeit ergeben. „Sharing“ und „Access“ sind zu Schlüsselbegriffen der vernetzen Kultur geworden. Dies nicht so sehr aus individueller Grosszügigkeit, sondern weil es sich herausstellt, dass dies Grundmechanismen sind, um Sozialität, ganz im Sinne Tardes, zu produzieren. Ohne funktionierende Möglichkeiten der Nachahmung, verstanden als aktiven Prozess, können wir weder individuell produzieren, noch kann die Produktion eine soziale Wertigkeit erhalten.

Die zweite Erfahrung, die Tarde nach Jahrzehnten des Desinteresses plötzlich wieder relevant erscheinen lässt, ist dass wir immer stärker die internen Widersprüchen der individuellen Monopolisierung kultureller Produktion zu spüren bekommen. Das sind etwa die Naturwissenschaften, die nicht nur von den steigenden Preisen für wissenschaftliche Publikationen behindert werden, sondern auch mit immer mehr Schwierigkeiten zu kämpfen haben, weil Informationen gar nicht mehr zugänglich sind, oder Verfahren patentiert werden, und die Rechteabklärung so komplex, und teuer ist, dass sie für Forscher ohne spezialisierten administrativen Stab kaum mehr zu leisten ist. Da ist aber auch die Kreativindustrie, die einerseits die Vernetzung und Kommunikation einfordert, gleichzeitig bemüht ist, diese Kommunikationsleitungen – die notwendigerweise kollektiv ist – zu privatisieren. Dass die Musikindustrie massenhaft ihre eigenen Kunden, die den Vertrieb in die eigene Hand nehmen, und ihre eigenen Produzenten, die Samplerechte nicht geklärt haben, verklagt, ist symptomatisch für diese internen Widersprüche. Die zunehmende Radikalisierung der Monopolisierung geistigen Eigentums, man denke nur an die gestern (25.04) im EU Parlament verabschiedete „IPR Enforcement Directive“ wird diese Widersprüche zwischen kollektiver Produktion und individueller Aneignung noch weiter verschärfen.

Bruno Latours flache Ontologie der Wissenschaften lässt sich sehr gut auf die digitale Kulturproduktion umlegen. Der entscheidene Punkt ist, dass die Frage, ob eine kulturelles Gut Rohmaterial oder Endprodukt ist, nicht mehr im Hinblick auf das Gut selbst entschieden werden kann. Im analogen Kontext ist das nicht der Fall. Die Farbe auf einem Gemälde kommt nie mehr zurück in die Tube. Im digitalen Kontext ist die Unterscheidung zwischen Input und Output relational und bestimmt vom Kontext der Reproduktion. Ob ein Musikfile in einem Player oder in einem Editor geöffnet wird, ist technologisch gesehen kein Unterschied, sondern einzig und alleine eine Entscheidung des Nutzers. Alle Versuche, hier Mittels technischer Massnahmen, dem sogenannten Digital Rights Management, wieder einen ontologischen Unterschied zu simulieren sind daran gescheitert, dass Ontologien eben nicht künstlich geschaffen werden können.

Für Künstler ist dies keine Neuigkeit und auch nicht an digitale Technologien gebunden. Fast alle Schriftsteller sind auch begeisterte Leser und fast alle Maler besuchen regelmässig Ausstellungen andere Maler. Da sind wir wieder bei Tarde. Was die Digitalisierung hier verändert ist, dass den Transformationscharacter kultureller Produktion explizit und zu einem Massenphänomen macht. Und das ist nicht wenig, sondern bringt das ganze Gefüge ins Wanken.

Die Folge dieser Überlegungen ist nicht, wie vielfach angekündigt und befürchtet, der Tod der Autorenschaft. Das Foucault'sche „Murmeln der Diskurse“ scheint mir hier nicht in die richtige Richtung zu weisen. Mehr denn je ist es möglich, jede einzelne Äusserung einem identifizierbaren Autoren zuzuordnen, gerade auch in kollektiven Prozessen. Man denke hier nur an die sehr detaillierten Versionen/Autoren Listungen in Wikipedia.

Was notwendig ist, ist die Autorenschaft oder die kreativen Fähigkeiten, so neu zu definieren, dass einerseits individuelle Leistungen anerkannt werden können, ohne daraus gleich eine monopolistische Kontrolle dieser Leistungen abzuleiten. Es geht also, in der langen Perspektive nicht um den unfruchtbaren Gegensatz zwischen autonomen Individuum und homogenen Kollektiv, sondern darum, Individualität und Kreativität in einem vernetzten Kontext neu zu entwerfen, oder vielleicht einfach nur wiederzuentdecken.

Vielen Dank.